„Sex, die wahre Geschichte“ ist ein wichtiges Buch, das die Mär einer naturgegebenen Monogamie des Menschen gründlich in Frage stellt, und zwar auf eine wesentlich differenziertere Weise, als der plumpe deutsche Titel vermuten lässt (Original: „sex at dawn, how we mate, why we stray, and what it means for modern relationships“).
Wenn es um vermeintlich typisch weibliche und typisch männliche Verhaltensweisen geht, insbesondere beim Thema Sexualität, wird gerne die Evolutionsbiologie herangezogen. Diese will uns oft weismachen, dass Männer seit Urzeiten darauf programmiert seien, möglichst viele junge Frauen mit ihrem Samen zu beglücken, um möglichst viele Nachkommen zu zeugen, während Frauen darauf gepolt seien, einen wohlhabenden Mann fest an sich zu binden, damit er sie bei der Aufzucht ihrer stets überschaubaren Anzahl möglicher Nachkommen bestmöglich unterstützt.
Der Mann lässt sich zähneknirschend auf die Bindungswünsche der Frau ein, weil sie ihn sonst gar nicht zum Zuge kommen lässt. Dafür geht er heimlich fremd, wacht aber argwöhnisch darüber, dass sie es ihm nicht gleichtut. Denn wenn er sich schon ins seinen Fortpflanzungsmöglichkeiten zurücknimmt, will es wenigstens seine Vaterschaft gesichert wissen. Die Frau wiederum tut alles, damit er sie nicht verlässt, geht aber ebenfalls heimlich fremd, wenn zur Zeit ihrer fruchtbaren Tage ein attraktiverer und damit genpoolmäßig geeigneterer Begatter zur Verfügung stehen sollte.
Das Spannungsverhältnis in Partnerschaften, das aus beider perfider Logik resultiert (er will Sex, sie will Liebe, er geht fremd, sie gibt sich treu) ist laut Evolutionsbiologie direkte Folge genetisch angelegter Geschlechterdifferenzen, die sich angeblich aufgrund des Überlebensvorteils dieser Verhaltensweisen entwickelt haben. Die Neigung, uns in monogamen Beziehungen inklusive der damit verbundenen Konflikte zu verpartnern, wäre demnach genetisch fest in uns verankert.
Was immerzu wiederholt wird, ist deswegen nicht wahr
Ryan und Jethá bezeichnen diese Mär als „Standardnarrativ“, das von Wissenschaft wie Gesellschaft immer wieder neu aufgetischt wird. Doch die Autoren bringen reichlich Belege dafür, dass diese Standarderzählung unzutreffend ist. Aus der Fülle ihres Materials und der darauf aufgebauten Argumentationen nur einige Beispiele:
- Unsere Vorfahren in der Steinzeit lebten in ihren kleinen Gemeinschaften, die einen weit größeren Überlebensvorteil genossen, wenn sie sich gegenseitig unterstützten, anstatt sich durch konkurrierende Sexualkontakte aufzureiben. Ihre Sexualität wurde daher wahrscheinlich häufig gerade nicht monogam gelebt, wie sich an sogenannten unzivilisierten Naturvölkern nicht selten beobachten lässt.
- Unsere nächsten tierischen Verwandten, Bonobos und Schimpansen, leben nicht monogam. Während die Bonobos Sexualität wesentlich auch zur Kontakt- und Gemeinschaftspflege einsetzen, konkurrieren Schimpansen weitaus aggressiver um Sexualkontakte. Beide Verhaltensweisen wären für uns Menschen demnach biologisch naheliegend, sexuelle Treue ein Leben lang hingegen nicht.
Die wenigen monogam lebenden Menschenaffen (z.B. Gibbons) sind hinsichtlich vieler ihrer Merkmale und hinsichtlich unseres genetischen Stammbaums deutlich weiter vom Menschen entfernt. - Der angebliche evolutionsbiologische Vorteil gesicherter Vaterschaft (und die daraus resultierende männliche Eifersucht) machen erst Sinn, seit individuelle Ressourcen durch Privatbesitz akkumuliert und vererbt werden können. Vor der Sesshaftwerdung der Jäger und Sammler und dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht waren Männer im Sinne besserer Verbreitungschancen ihres Genpools gut beraten, sich für die gesamte Gemeinschaft zu engagieren anstatt nur für ihre eigenen Kinder.
- Die Grundannahme der Evolutionsbiologie, das Leben sei primär ein Überlebenskampf, ist eine Projektion unserer auf Konkurrenz gepolten Wirtschaftsweise auf die Urzeit. Die Natur erscheint demgegenüber weitaus großzügiger, sie wirtschaftet nicht grundsätzlich sparsam und effizient, sondern erschafft Überfluss, wo sie nur kann. Der Sparsamkeitsmodus ist ein Notaggregat, auf das die Natur beispielsweise in der Wüste zurückgreift. Ansonsten sind überbordende Vielfalt und Fülle und symbiotische Kooperation in der Natur weitaus verbreiteter als der Kampf jeder gegen jeden.
Ich belasse es bei diesen Beispielen, deren Evidenz in der Kürze dieser Rezension kaum so überzeugend vermittelt werden kann wie im Buch. Die Autoren tun dies mit Humor, Engagement und Leidenschaft, ohne dogmatisch zu werden. Die Lektüre sät berechtigte Zweifel an der Idee einer natürlichen menschlichen Neigung zur Monogamie. Diese entpuppt sich als kulturell erzeugtes Dogma. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Natur – sofern sie denn nicht systematisch zerstört wird – keiner rabiaten moralischen oder steuerlichen Unterstützung bedarf, wie die Autoren dies für die Ehe süffisant konstatieren. Was also macht die Monogamie für uns Menschen so attraktiv, dass die meisten unverdrossen an ihr als Ideal festhalten, auch wenn sie noch so oft daran scheitern? Die Autoren machen dafür eine Reihe kulturhistorisch, soziologisch und psychologisch zu erklärende Prozesse ausfindig und verstehen Monogamie eben nicht als naturgegeben.
Monogamie bleibt eine Option, aber nur eine unter vielen
Was resultiert daraus? Präsentieren uns die Autoren ein naturgemäßes Alternativmodell, mit dem wir unsere Sexualität konfliktfrei genießen könnten? Leider – oder zum Glück – nein. Sie ziehen uns einen faulen Zahn, indem sie die Ideologie der Monogamie als solche enttarnen. Damit bleibt sie aber eine der Möglichkeiten, mit denen wir unser Liebesleben strukturieren können, ohne dass diese aber noch eine natürliche Überlegenheit gegenüber anderen Liebesformen für sich beanspruchen könnte. Was wir aus den Erkenntnissen dieses Buches machen, liegt an uns. Es ist eine Reise ins Ungewisse, wie die Autoren im letzten Kapitel ausführen.
Auch wenn es durch den Detailreichtum manchmal etwas langatmig wird, habe ich dieses Buch mit Genuss gelesen, nicht zuletzt aufgrund der treffenden Ironie, mit der sie die „Erkenntnisse“ des Mainstreams einiger Wissenschaftszweige dekonstruieren. Gefallen hat mir auch der widerholte Hinweis darauf, dass in der Wissenschaft – wenn überhaupt – nur höchst unzulänglich zwischen Lust und Liebe unterschieden wird. Köstlich der Vergleich mit Rotwein und Blauschimmelkäse, die sich wie Lust und Liebe gut ergänzen, aber eigentlich doch leicht zu unterscheiden wären, wenn man denn nur will.
Mir gefallen auch die Zweifel an der verbreiteten Mär, dass die Sexualität der Frau von Natur aus bindungsorientierter sei als die der Männer. Sie führen sogar manche Belege an, die für das Gegenteil sprechen. Auch Frauen können und dürfen einfach Spaß am Sex haben, sie wollen und müssen ihn nicht immer als Trumpfkarte im Bindungspoker in der Hand halten. Nicht zuletzt indem die Autoren den Text von Percy Sledges Schmacht-Ballade „When a Man loves an Woman“ auseinandernehmen und als alternativen Titel „Wenn ein Mann eine pathologische Obsession entwickelt“ vorschlagen, gewinnen sie die Herzen der Polyamory-Anhänger, als deren Bibel Ulrich Clement das Buch bezeichnet. Dem würde ich allerdings nicht zustimmen, denn die Autoren bleiben doch weitgehend frei von Dogmen, was man von den Fans heiliger Schriften nicht immer behaupten kann.
Wo die Evolutionsbiologie zu kurz greift
Was mir in dem Buch gefehlt hat, ist eine grundlegende Kritik an der Logik der Evolutionsbiologie. Diese suggeriert, es gäbe in uns bewusstseinsferne, genetisch festgelegte Programmierungen, die unser Verhalten steuern, ohne dass wir darauf groß Einfluss hätten. Demnach „müssen“ wir uns auf gewisse Weise binden, „müssen“ wir manchmal fremdgehen, „müssen“ wir regelmäßig mit Eifersucht reagieren, ohne dass wir so recht wissen, wie uns geschieht. Selbst wenn die Autoren einige der Annahmen hinterfragen, welches Verhalten uns Überlebensvorteile verschafft haben und damit im Genpool verankert sein könnte, so bleibt die Argumentationsweise selbst unhinterfragt.
Demgegenüber bin ich der Ansicht, dass auch das, was genetisch in uns angelegt ist, grundsätzlich erfahrbar, einfühlbar und damit als Motivator bewusstwerden kann. Wenn ich als Mann z.B. aus biologischen Gründen auf junge, gesunde, gebärfähige und daher attraktive Frauen mit sexuellem Begehren reagiere, so kann ich doch dieses Begehren in mir wahrnehmen, bevor ich diese Frau in welcher Weise auch immer mit meinem Verhalten beglücke oder bedränge. Ich gebe zu, manche meiner Geschlechtsgenossen erwecken den Eindruck, als könnten sie das nicht, aber dafür lassen sich leicht andere Gründe finden als deren Biologie, die sie doch mit mir gemein haben. Für mich stehen biologische prinzipiell gleichrangig neben allen anderen Motivatoren, seien sie individualpsychologisch, kulturell, soziologisch oder wie auch immer begründet: Sie alle zusammen formen unser Begehren. Ich kann ggfs. spüren, dass etwas in mir unwiderstehlich nach Verwirklichung drängt und bin gefordert, darauf eine Antwort zu finden. Es aber als genetisch programmiert und damit unvermeidlich zu etikettieren, hieße, die Verantwortung für mein Handeln an die Überlebensvorteile der Steinzeit zu überantworten. Eine solche Sichtweise scheint mir für Menschen, die Konventionen überwinden und ihr Liebesleben bewusst gestalten wollen, weder attraktiv noch hilfreich.
Sexuelle Normalität ist nicht natürlich
Überraschenderweise holt die Autoren das Standardnarrativ gegen Ende doch zuweilen wieder ein, wenn sie z.B. Männern doch wieder den grundsätzlich größeren Hang zur Promiskuität nachsagen oder die unterschiedlichen Tempi im Sexualverhalten von Männern und Frauen als natürlich ausgeben (nur dass sie eben in einer monogamen Beziehung keinen Sinn mehr machen). Dass Männer oft schneller kommen, mag normal sein, wie auch manch anderer Geschlechtsunterschied. Aber es ist das große Verdienst in „Sex, die wahre Geschichte“, den fundmentalen Unterschied zwischen normal und natürlich in einem hoch emotional besetzten Themengebiet herauszuarbeiten. Darauf lässt sich aufbauen, wenn wir unsere Liebesfähigkeit und erotisch-sexuelle Kompetenz weiter entwickeln wollen.
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