Die Übernahme eines Seminarinstitutes – wie geht das?
Sind Seminare, wie wir sie im Rahmen der Schule des Seins anbieten, von der Persönlichkeit des Leiters oder der Leiterin abhängig oder können die entsprechenden Kompetenzen auch weitergegeben werden? Dieses Thema beschäftigt mich schon einige Zeit. Seit Jahren ist mir klar, dass ich meine Seminararbeit deutlich reduzieren werde, und das wird jetzt Realität.
Obwohl ich seit Jahrzehnten Gruppenleiterinnen und -leiter ausbilde und einige von ihnen ihre Kurse im Rahmen der Schule des Seins anbieten, bietet sich für eine Nachfolge niemand direkt an. Das liegt u.a. daran, dass mein Fokus nicht darauf lag, andere zu befähigen, meine Arbeit zu übernehmen, sondern mit Unterstützung und Ermutigung – auf der Basis bestimmter Grundprinzipien – ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch ging es mir nicht darum, ein möglichst großes Seminarinstitut zu erschaffen, was mich mehr an administrative und Führungsaufgaben gebunden hätte, als mir lieb war.
Die Community
Was sich allerdings in den letzten 30 Jahren informell entwickelt hat, ist eine Community von Menschen, die eine besondere Kultur des zwischenmenschlichen Umgangs schätzen gelernt haben. Manche nennen es den „Spirit“ der Schule des Seins. Oft bekomme ich aus unseren Tagungshäusern die Rückmeldung, dass der „Spirit“ unserer Gruppen auch von außen spürbar sei, was mich natürlich freut. Nicht zuletzt bei unseren Sommerfesten und Festivals, die eher gemeinschaftlich gestaltet als geleitet werden, wird dieser Spirit lebendig und zieht viele Menschen an.
Es wäre schade, wenn diese Community sich auflöst oder sich nicht mehr weiterentwickelt (obwohl auch sie sicher irgendwann den Weg alles Zeitlichen gehen wird). Es steckt viel Potenzial in dieser Gemeinschaft, weshalb ich im Sommer eine Umfrage gestartet habe.
- Was macht das Besondere der Schule des Seins aus?
- Inwieweit ist dies von mir oder anderen Personen abhängig?
- Wie kann die Schule des Seins eine Zukunft haben, in der bei aller Veränderung ihre Grundhaltung kultiviert wird?
Die Ergebnisse findest du auf der SdS-Website. Welche Schlüsse ziehe ich daraus?
Respekt für Grenzen und Präferenzen
Zunächst nochmal herzlichen Dank für die überwältigende Wertschätzung, die mir in der Umfrage entgegengebracht wurde! Auf die Frage, was die Besonderheit der Schule des Seins ausmacht, wurden am häufigsten unsere Themen (Liebe, Eros, Bewusstsein) genannt, gefolgt von „Sein mit dem, was ist“ und dem „Respekt für individuelle Grenzen“. Eine „tantrische Grundhaltung“ wurde seltener genannt, womöglich weil Respekt für Grenzen in der Tantraszene nicht selbstverständlich ist. Zudem verstellen manche tantrischen Ideale den Blick für das, was ist. Es ist eine schöne Vorstellung, dass wir das Göttliche ineinander sehen („Namastè“), aber wollen wir deswegen Partnerwahlen immer dem Zufall (oder „dem Göttlichen“) überlassen, wie es mancherorts praktiziert wird? Mir als Leiter würde das brisante Situationen ersparen, aber manche Realität, z.B. persönliche Präferenzen, wird dabei ausgeblendet.
Sein mit dem, was ist
Warum ist die Anerkennung der gegenwärtigen Realität wesentlich, wenn sie doch oft nicht so ist, wie wir sie gerne hätten? Meine Antwort: Weil das, was ist, die Basis ist, von der aus Veränderung geschehen kann. Sie ist der Boden, auf dem wir stehen, oder der Ausgangspunkt. Je mehr wir Realität verleugnen oder in ihrem Geworden-Sein nicht verstehen, desto weniger können wir wirkungsvoll Einfluss auf sie nehmen, damit unsere Wünsche die Chance haben, Realität zu werden. Etwas „sein lassen“ bedeutet nicht, dass wir es nicht verändern wollen. Das wäre fatalistisch. Es bedeutet, gleichermaßen anzuerkennen, dass etwas jetzt so ist, wie es ist, und es uns für die Zukunft anders zu wünschen. Aus dieser Differenz entsteht – vor allem wenn wir sie nicht nur mental, sondern auch emotional an uns heranlassen – eine Dynamik, die sanfter und zugleich wirkungsvoller ist als ein empathieloser Kampf gegen das, was uns nicht gefällt.
Beziehungen als Lernfeld, individuell und kollektiv
Diese Dynamik können wir gut in unseren persönlichen Beziehungen beobachten. Von unseren Beziehungen erhoffen wir uns das größte Glück und machen doch oft auch die Erfahrung, dass sie Enttäuschung und großen Schmerz mit sich bringen können. Das Thema Beziehung und Bindung ist laut Umfrage das am meisten gefragte Thema. Hier gibt es offensichtlich großes Lernpotenzial, einige Gedanken dazu findest du im Büchlein „Erfüllende Beziehungen„, das wir kürzlich herausgegeben haben.
Auf der gesellschaftlichen Ebene scheint es noch schwieriger, die Dynamik aus annehmen und verändern wollen zu verstehen und zu unterstützen. Stattdessen nimmt Polarisierung erschreckende Ausmaße an und Verständigung scheint immer seltener möglich. Auffällig ist in der Umfrage das geringere Interesse an gesellschaftlichen Themen. Ich habe eine ganze Reihe Texte zu solchen Themen wie Klimakrise, Ideologie oder Krieg und Frieden verfasst, die große positive Resonanz fanden, mir aber auch manche Schmähpost eingebracht haben. Die Polarisierung der Debatte macht die Auseinandersetzung mit solchen Themen oft frustrierend und hat im Zusammenhang mit Corona auch die spirituelle Szene weitgehend gespalten. Insofern verstehe ich das mäßige Interesse.
Kürzlich hörte ich einen Podcast mit der Vorsitzenden des Ethikrates, Alena Bruyx, die darüber spricht, wie sehr Angriffe auf ihre persönliche Integrität ihr zugesetzt haben und wie sie nahe dran war, alles hinzuschmeißen. Sie vertritt die These, dass es zum Menschsein gehören oder den Sinn des Lebens ausmachen könnte, einen Beitrag zu leisten, der über unsere persönlichen Interessen hinausreicht. Mich hat das zu hören sehr berührt und es scheint ein offenes Geheimnis: Immer nur auf uns selbst zu schauen, macht uns nicht glücklich. Uns selbst zu übergehen aber auch nicht.
Gesellschaftliche Relevanz
Schon lange beschäftigt mich die Frage, ob die Arbeit in der Schule des Seins eine gesellschaftliche Relevanz hat. Ich bekomme immer wieder Rückmeldungen wie „Deine Arbeit ist Friedensarbeit“, was mich natürlich freut. Ob die Beschäftigung mit persönlichen Themen, wie sie in den Seminaren geschieht, uns tatsächlich auch für notwendige gesellschaftliche Veränderungen sensibilisiert, halte ich allerdings nicht für gesichert. Es kann sogar die gegenteilige Wirkung haben: Wer im persönlichen Bereich endlich mehr zu sich und den eigenen Bedürfnissen zu stehen gelernt hat, wird der oder die deswegen eher bereit sein, bei z.B. umweltschädlichem Konsumverhalten eigene Bedürfnisse zugunsten des Allgemeinwohls oder Parteien zu wählen, die uns dies nahelegen? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Die Frage öffnet das weite Feld, was unsere Bedürfnisse überhaupt sind und was eher bequeme Gewohnheiten. Ich lasse das hier mal so stehen.
Ein menschliches Dilemma
Wir bekommen es hier mit einem Dilemma zu tun, dass ich als ein grundlegendes menschliches Dilemma betrachte: die Differenz und zuweilen Diskrepanz zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl, in der Spieltheorie bekannt als Gefangenendilemma. Was aus meiner persönlichen Perspektive gut ist, ist nicht immer auch für die Gemeinschaft gut, und umgekehrt. Besonders deutlich wird dies in der Klimakrise, wenn z.B. der Flieger uns nicht nur schneller, sondern sogar noch billiger ans Ziel bringt als klimaschonendere Fortbewegung. Diese Diskrepanz (oder auch „kognitive Dissonanz“) ist nicht leicht auszuhalten und führt oft zu Verleugnung: Wir wollen lieber nicht so genau wissen, welche Auswirkungen unsere Gewohnheiten haben. Die Verleugnung fällt in der Psychoszene kaum geringer aus als in anderen gesellschaftlichen Milieus. Ich werde in einem späteren Blogeintrag näher darauf eingehen.
Das ist ein unappetitliches Thema. Habe ich dafür eine Lösung? Nein. Ich glaube auch nicht, dass es hilft, individuelles Verhalten zu moralisieren. Ich bin aber der Meinung, dass wir ohne wachsendes Bewusstsein eben dieses Dilemmas keiner Lösung oder zumindest Entschärfung der dringendsten Probleme auf unserem Planeten näherkommen.
Ist Selbstliebe antisozial?
Das bringt mich auf das Thema Selbstliebe, eines meiner Lieblingsthemen und die Basis meiner Arbeit. Doch Selbstliebe befreit uns leider nicht aus dem beschriebenen Dilemma. Selbstliebe ist gut für uns selbst, aber ist sie das immer auch für andere? Einer meiner Lehrer provozierte uns gerne mit der These: Psychotherapie ist grundsätzlich antisozial, es gehe nur um dich! Stimmt das?
Einerseits ist es unvermeidlich, dass uns unser eigenes Schicksal am nächsten ist. Me first. In der Lage zu sein, gut für uns selbst zu sorgen, ist eine Kernkompetenz für ein erfüllendes Leben und auch für erfüllende Beziehungen. Wie kommt dann Empathie für andere ins Spiel, für unsere nächsten über entferntere Mitmenschen bis hin zur Natur, zu Tieren und Pflanzen? Wann und unter welchen Umständen sind wir bereit, uns für das Gemeinwohl zu engagieren? Wann und wie trägt das wiederum zu unserem eigenen Wohlbefinden bei? Viele Menschen machen die Erfahrung, dass sie großzügiger werden, je mehr sie sich selbst annehmen können, aber damit ist der strukturelle Unterschied von Eigeninteresse und Gemeinwohl nicht aus der Welt. „America first“ ist kein Ausdruck von Selbstliebe, sondern von Egoismus. Aber sehen das die Amerikaner, die dem Slogan anhängen, auch so?
Qualitäten, die Räume öffnen
Was hat das alles mit der Schule des Seins zu tun? Viel! Denn der besondere Umgang, den wir miteinander erleben, besteht m.E. wesentlich aus einer gelungenen Verbindung von Selbstliebe und Mitgefühl, von zu den eigenen Bedürfnissen stehen und Verständnis aufbringen für andere Bedürfnisse. Dies im Blick zu haben scheint mir auch wichtig, um in der Schule des Seins die „Räume zu öffnen“, die wir schätzen und lieben, obwohl sie nicht immer bequem sind und nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Aus einer Ansammlung Fremder, die wir mit Skepsis beäugen, wird immer wieder eine Gruppe liebenswerter Mitmenschen, in die wir uns gerne einfühlen, selbst wenn es manchmal weh tut. Es gehört zur Kompetenz einer Seminarleiterin oder eines Seminarleiters, diese Dynamik durch das eigene Verhalten angemessen zu unterstützen.
In der Umfrage bekam ich die Rückmeldung, dass ich mich nicht so sehr in den Mittelpunkt stelle, sondern eher dem Geschehen aus dem Hintergrund diene. So gehe ich – Saleem – als Leiter meist mit dem oben beschriebenen Dilemma um: Ich halte meine persönlichen Bedürfnisse weitgehend raus. Ich verstehe das aber nicht als Blaupause für andere. Vielleicht gelingt es anderen, sich persönlich mehr einzubringen und doch eine gute Balance von Ich, Du und Wir zu finden. Ein Selbstläufer ist dies jedoch nicht.
Verantwortung
Blaupausen motivieren nicht zur Übernahme von Verantwortung. Das Verhältnis von Verantwortung in der Leitung einerseits und Mitverantwortung in der Teilnahme andererseits ist ein weiteres spannendes Thema. Wann braucht es meine Anleitung, wann meine Intervention, wann meine Zurückhaltung? Wie dosiere ich die Herausforderung für die Gruppe, wenn darin ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen? In der Umfrage haben mehr als die Hälfte dem Satz zugestimmt: „Mit entsprechender Ausbildung können auch andere die Grundprinzipien der Schule des Seins verkörpern.“ Auch darüber freue ich mich und bin gespannt, wie sich die Schule des Seins in den nächsten Monaten und Jahren weiterentwickeln wird. Wer wird auf welche Weise Verantwortung übernehmen können und wollen?
Das führt mich zu einer weiteren Orientierung, die mich all die Jahre geprägt hat: Ich habe Einfluss, aber keine Kontrolle. Ich werde meine Einflussmöglichkeiten nutzen und schauen, was ich beitragen kann, und es darüber hinaus anderen überlassen, inwieweit sie sich einbringen und engagieren möchten.
Ich freue mich über Kommentare und Rückmeldungen und grüße dich herzlich
Saleem
Lieber Saleem,
ich war noch nicht bei einem deiner/eurer Seminare, aber ich finde es immer wieder großartig, wie behutsam und sorgfältig du die Sachen abwägst. Das ist, glaube ich, eine wichtige Qualität für den Umgang mit den vielfältigen Krisen unserer Zeit.
Hast du schon von den „Inner Development Goals“ (IDG) gehört? Da geht es um die Fragen, welcher inneren (mentalen, emotionalen) Qualitäten bedarf, um eine „nachhaltige“ Lebensweise zu entwickeln. https://www.innerdevelopmentgoals.org/
Herzlich, Steven
Danke lieber Steven für die Rückmeldung. Inner Development Goals klingt interessant, das schaue ich mir mal an.
Lg Saleem
Lieber Saleem,
„this way or that way“?
Man ist an den Kreuzwegen des Lebens immer mit seiner Entscheidung ganz allein. Und man kann nur einen Weg gehen. Wie der andere Weg aussieht, das wird man daher nie erfahren. Man könnte auch sitzen bleiben und keinen Weg wählen. Aber wie lange hält man dies aus? Manchmal kommt jemand vorbei und hilft dir bei deiner Entscheidung. Es heißt dann: Jemand tritt in dein Leben ein.
Ich denke: Man reicht immer auch seine persönlichen Kompetenzen weiter im Zusammenspiel mit anderen. Ob diese angenommen werden, das ist jedoch immer die Entscheidung des anderen. This way or that way.
Lange Zeit dachte ich, dass Selbstliebe = Egoismus ist. Heute weiß ich, dass die Fähigkeit zu lieben die Selbstliebe unabdingbar als Voraussetzung hat.
Ich finde, dass es nicht zwingend eine Diskrepanz zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl geben muss. Wenn ich für mich verantwortungsvoll entscheide, dann dient es dem Gemeinwohl.
In dem Sinne bin ich optimistisch, dass es mit der Schule des Seins weitergehen wird.
Beste Grüße Petra
Liebe Petra, danke für deinen Kommentar, den kann ich gut nachvollziehen. Und ja, Eigeninteresse und Gemeinwohl müssen nicht auseinanderfallen, sie können es aber, und ich finde es hilfreich, das anzuerkennen. Herzliche Grüße Saleem