„Wer bin ich?“ gilt seit Jahrtausenden als die Grundfrage spiritueller Erkenntnis. Wenn wir dieser Frage vertieft nachgehen, werden wir früher oder später mit Widersprüchen konfrontiert. Aus unseren Erfahrungen heraus bilden wir eine halbwegs stabile Identität. Doch wer wir wirklich sind, das ereignet sich – bei aller Loyalität gegenüber der Vergangenheit – in jedem Moment neu. Widersprüche, so irritierend sie manchmal sein mögen, sind so gesehen ein Segen. Sie können uns helfen, einschränkende Selbst- und Weltbilder loszulassen und den offenen Raum jenseits von Vorstellungen und Glaubenssätzen zu erfahren.
Die meisten Widersprüche in menschlichen Beziehungen und Gemeinschaften zeigen sich als
- Mangel an Einfühlung in uns selbst und einander
- Macht- und Interessenkonflikte und/oder Anpassung
- Entfremdung vom Gewahrsein unserer Verbundenheit
Anhand des Dreiecks aus Selbstgefühl, zwischenmenschlichem Kontakt und universeller Verbundenheit (Ich – Du – Wir) können wir Widersprüche besser verstehen und innerlich an ihnen reifen.
Das Verständnis dieses Dreiecks mit seinen drei Perspektiven bildet Grundlage und Hintergrund für die Seminare und Trainings der Schule des Seins. Dieser Text rückt sie in den Vordergrund.
Der erste Perspektive: Ich
Zunächst steht das individuelle, einzigartige So-Sein jedes Einzelnen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jeder Tag beginnt mit einer Meditation, jedes Gewahrsein beginnt im Gewahrsein des eigenen körperlichen, emotionalen und mentalen Seins. Das ist der erste Schritt. Auch wenn wir das von Kindesbeinen an gelernt haben: Im Kontakt mit uns selbst geht es nicht darum, Ansprüchen anderer oder sozialen Normen und spirituellen Idealen gerecht zu werden. Es geht um unsere eigene Wahrnehmung, unsere ganz persönliche, intime Wahrheit. Daher wirst du in der Schule des Seins ermutigt, deine eigenen Grenzen zu spüren und sie nur soweit zu überschreiten, wie du selbst dazu willens und bereit bist. Du wirst in deiner vollen Selbstverantwortung gesehen und darin unterstützt, diese auch selbst wahrzunehmen.
Das beinhaltet auch – wenn du es wählst – Verantwortung abzugeben oder dir Hilfe zu holen, wenn du dich überfordert fühlst. Volle Selbstverantwortung bedeutet nicht, dass wir alles selbst oder gar alleine bewerkstelligen müssen. Ganz im Gegenteil. Sie gibt unserem Zusammenleben und unserer Kooperation eine auf Dauer tragfähige Basis. Diese Basis könnten wir Selbstliebe nennen. Sie ist eine wohlwollende Haltung uns selbst gegenüber, in der wir bereit sind, uns selbst so wahr- und anzunehmen, wie wir sind.
Der Fokus auf der jeweils eigenen Wahrheit beinhaltet eine gewisse Gefahr. Wir alle schmoren zuweilen gerne im Saft unserer eigenen Vorstellungen, wer wir glauben zu sein und was uns guttut – oder auch nicht. Wir verteidigen unsere Vorstellungen als „unsere Wahrheit“ und schützen unser wahres Sein unbemerkt zu Tode. Wir machen es wieder anderen Recht, in diesem Fall aber nicht den Menschen, denen wir aktuell begegnen, sondern verinnerlichten Botschaften aus längst vergangenen Beziehungen.
An erster Stelle stehen hier die Losungen unserer einstmals allmächtigen Eltern. Aus kindlicher Perspektive waren sie allmächtig. Aber es gab noch viele andere, die unser Bild von uns selbst geprägt haben. Wie es in einem Buchtitel treffend heißt: „Ohne dich wäre ich ein anderer“. Nicht nur das: Ohne den Kontakt mit anderen Menschen gäbe es uns gar nicht.
Die zweite Perspektive: Du
Daher ist der zweite Schritt: Wer bist du und wer bin ich im Kontakt mit dir? Der Kontakt mit dem Du wird manchmal zu einer Erschütterung. Wir brauchen diese, um zunächst veraltete Selbstbilder, später aber alle Selbstbilder als das zu erkennen was sie sind: Selbstbilder, nicht wirklich wir Selbst. In unterschiedlichen Begegnungen erfahren wir uns jeweils anders und neu und sind herausgefordert, Bilder, die wir uns von uns gemacht haben, zugunsten der Wahrheit des Augenblicks loszulassen.
Aber was ist die Wahrheit des Augenblicks? Sie ist mehr als deine oder meine Wahrheit. Insofern wir, du und ich, bereit sind, ganz mit unserer jeweils eigenen Wahrheit da zu sein und uns damit zu zeigen, entdecken wir, dass unsere Wahrheiten verschieden sind. Das ist nur in dem Maße ein Problem, wie wir unsere Differenz nicht aushalten – weil wir z.B. glauben, unsere eigene Wahrheit aufgeben zu müssen, um die Wahrheit des anderen an uns heran zu lassen. Aber genau darum geht es, wenn wir jemanden lieben: Wir lassen seine oder ihre Wahrheit an uns heran und uns davon verwandeln. In dieser Verwandlung verlieren wir, was wir für uns selbst gehalten haben. Aber wir gewinnen mehr und mehr Gewahrsein darüber, wer wir wirklich sind.
Die dritte Perspektive: Wir
Indem wir im unmittelbaren Kontakt miteinander verschiedene Wahrheiten gelten lassen und uns darin verwandeln, um noch mehr wir selbst zu sein, nähern wir uns dem dritten Schritt: Wer sind Wir? Das Wir hat verschiedene Dimensionen, je nachdem, wie weit wir den Kreis ziehen, mit dem wir uns verbunden fühlen. Es reicht vom Wir eines Paares über das Wir der Gruppe bis hin zum Wir unserer Subkultur, Kultur, der ganzen Menschheit und bis hin zum Wir der ganzen Existenz. Und sogar das Wir unserer Inneren Anteile oder Personen können wir noch als eine weitere Dimension mit hinzunehmen.
Das ganze Universum ist so aufgebaut: Jede Einheit ist die Integration eines Wir. So wie mehrere Atome ein Molekül bilden, mehrere Moleküle Zellen, eine Anzahl Zellen ein Organ und verschiedene Organe den Körper, so sind wir als integrierte Körper wiederum Teil größerer Einheiten: einer Gruppe, einer Nation usw. Inwieweit können wir diesen Aufbau seelisch und mit unserem Bewusstsein nachvollziehen, uns darin erleben und darin aufgehen?
Uns als Wir zu begreifen und uns mit einem Wir zu verbinden, birgt einige Herausforderungen. Bin ich als Teil eines Wir noch ich selbst? Ist es Selbstaufgabe oder Selbstfindung, mich in etwas größerem, als ich es bin, wiederzufinden? Im Kontakt mit dem Wir machen wir die Erfahrung, dass individuelle Wahrheiten Puzzlesteine in einem größeren Ganzen sind. Wir können es niemals ganz überblicken. Wir können es aber als unsere tiefste Wahrheit erahnen, dass wir erst als Teil eines Wir ganz wir selbst sind. Wir alle sind. In der Erfahrung des Seins gibt es keine Trennung, bzw. alle Trennungen, alle Unterschiede sind darin bereits enthalten.
Die Magie des Ich – Du – Wir
Indem wir zu allen drei Perspektiven, die sich aus dem Dreieck Ich – Du – Wir ergeben, Zugang bekommen und zwischen ihnen wechseln können, werden aus manchmal unerträglichen Konflikten Potenziale.
Diese Verwandlung fühlt sich manchmal wie Magie an. Mit ihrer Hilfe können wir das Gewahrsein unserer Existenz erweitern und mit Freude Verantwortung dafür übernehmen.
Wirkliche Verantwortung fühlt sich – im Unterschied zu Schuld und Scham – wie Befreiung an. Wir haben zwar keine Kontrolle, aber wir haben Einfluss und nehmen diesen wahr.
Ich habe keine Kontrolle, wie dieser Text bei dir ankommt. Aber ich bin offen und neugierig auf deinen Kommentar.
Hier findest du den Video zu den Besonderheiten des Ich-Du-Wir Trainings
Wie er wirkt? Sehr inspirierend! Ich genieße und liebe Deine Art zu schreiben und mich hineinholen zu lassen in ein tieferes Bewusstsein (allein durch das Lesen), das neu und immer wieder neu Lust auf Erfahrungen, Lust auf Leben, Lust auf Erweiterung macht.
Wieder einmal DANKE dafür!
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