Vergesst den Orgasmus? Es würde uns nicht wundern, wenn Sie diese Empfehlung nicht ganz ernst nehmen. Gut so. Wir meinen sie auch nicht ganz ernst. Aber vielleicht doch ernster, als Sie denken. In der Fixierung auf den Orgasmus mit Ejakulation als natürlichem und unaufhaltsamen Höhepunkt sexueller Interaktion sehen wir eines der größten Hindernisse für eine facettenreiche männliche Sexualität. Leider wird diese Fixierung durch die gängige sexualwissenschaftliche Anschauung unterstützt: „Kommt männliche Lust einmal in Fahrt, will sie auch ins Ziel kommen“, wird beispielsweise in der Schweizer Männerzeitung der aktuelle Forschungsstand wiedergegeben. Auf Nachfrage wurde diese zugespitzte Darstellung allerdings relativiert, und sie wäre auch kaum differenzierter als ihr Pendent vom Stammtisch: „Was raus muss, muss raus!“ Vielleicht bedarf diese durchaus geläufige These aber auch keinerlei Beweises. Bestätigt sie sich etwa nicht durch unmittelbare Erfahrung? Welcher Mann kennt nicht dieses drängende, geile Gefühl, das nur durch das Herausschleudern von Sperma zu bändigen ist?
Männer, die sich von dieser Art Plausibilität nicht abhalten lassen, tiefer zu forschen und auf den Orgasmus und/oder auf die Ejakulation mal zu verzichten, machen allerdings teilweise ganz andere Erfahrungen. In den intimen Gesprächen haben wir Berichte darüber gehört, welch befreiende und befriedigende, allerdings zuweilen auch irritierende Wirkung Sex, ohne zu kommen, haben kann. Die Erfahrungen reichen von ekstatisch über erfüllend, Trauer auslösend bis zu unerträglich energiegeladen. Auch das Ergebnis unserer Umfrage lässt aufhorchen: Längst nicht alle befragten Männer sehen in Orgasmus und Ejakulation den natürlichen Höhepunkt und Abschluss einer sexuellen Begegnung. Und weniger als die Hälfte der Männer gaben an, dass Orgasmus und Ejakulation untrennbar zusammengehören. Dieses Ergebnis ist kaum auch nur annähernd auf die gesamte männliche Bevölkerung übertragbar. Könnte es aber sein, dass viele Männer erst gar nicht auf die Idee kommen, diese Phänomene näher zu erforschen, weil sie ihr Erleben schlicht für natürlich, normal und unausweichlich halten?
Nun könnte man fragen: Ja und? Wo ist das Problem? Viele sexuelle Frustrationen, nicht zuletzt auch in der Begegnung von Frauen und Männern, könnten hier eine ihrer Wurzeln haben. Denn wenn der Sexualakt ein feststehendes Ziel hat, ist es schwierig, das eigene Erleben unvoreingenommen neugierig zu erkunden und sich offen aufeinander zu beziehen, ohne unter Zugzwang zu geraten nach dem Motto: Wer A sagt, muss auch B sagen, und wer erregt ist, muss auch kommen. Solange Männer wie Frauen glauben, die Fixierung des Mannes auf den unvermeidlichen Endpunkt sei unabänderliches biologisches Schicksal, gleicht Sex eher einer Einbahnstraße als einer blühenden Wiese oder wildromantischen Landschaft.
Bei unserer Recherche für dieses Buch haben wir leider keine sexualwissenschaftliche Studie gefunden, die die Jahrtausende alten Erkenntnisse aus dem Tao oder dem Tantra näher untersucht hätte. Dazu gehören beispielsweise der Einfluss bestimmter sexueller Praktiken auf die Gesundheit oder Zusammenhang und Wechselwirkung von sexuellen, religiösen und spirituellen Erfahrungen, nicht zuletzt aber auch eine andere Einstellung gegenüber der männlichen Ejakulation. Frauen fordern in den letzten Jahrzehnten zunehmend, neben dem bis vor kurzem noch sagenumwobenen G-Punkt auch die weibliche Ejakulation näher zu erforschen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn wir Männer nun fordern: Erforscht männliche Sexualität ohne Ejakulation. Dazu gehört die sexuelle Erfahrung, die sich ganz dem spontanen Treiben überlässt, ohne überhaupt einen Höhepunkt anzusteuern. Dazu gehören aber auch Orgasmusformen wie beispielsweise männliche multiple Orgasmen oder der Talorgasmus, die ganz anders ablaufen, als die Schulweisheit uns glauben machen will. Wir finden, hier besteht interdisziplinärer Forschungsbedarf.
Um es klar zu sagen: Wir finden Orgasmen und Ejakulationen eine feine Sache, manche sind unvergessliche und tief beglückende Highlights. Aber so wie nicht jede Wanderung auf einen Gipfel führen muss, muss auch nicht jeder Sex den Höhepunkt erklimmen. Das klingt banal, bedeutet aber für manchen eine kleine oder gar große Revolution.
Die These hat Konsequenzen weit über das Sexuelle hinaus. Wenn Männer in einem der Kernbereiche ihres geschlechtlichen Selbstverständnisses – dem Orgasmuserleben – erfahren, dass körperliche Reflexe schlicht Konditionierungen sein können und damit trügerisch und wandelbar: Was gerät dann noch alles ins Wanken? Uns Männern stehen weit mehr Optionen offen, als wir uns das träumen lassen. Was bedeutet das für all die anderen Bereiche unseres Männerlebens, in den wir meinen, unseren Mann stehen zu müssen?
Die These ist aus dem Buch „Lustvoll Mann sein“ entnommen, das ich zusammen mit Rainer Salm geschrieben habe. Ich freue mich über Kommentare und Erfahrungsberichte.
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