Jeder, der will, darf eine Erotik-Karte ziehen und daraus eine kleine Geschichte stricken. Wir Mitspieler wissen nicht, wieviel davon wirklich geschehen oder was frei erfunden ist und lauschen gespannt. Wir erfahren vom Sex im freien Fall (mit Fallschirm) oder in einer Liebesschaukel, von nacktem, anonymem Sex (bekleidet nur mit einer Augenbinde) oder einem romantischen Himmelbett, erleuchtet und erhitzt vom dem Schein hunderter Kerzen, deren flüssiges Wachs schon bald für zusätzliche Hitze auf der Haut sorgt …
Nicht alles, was wir in einer heißen Fantasie genießen, wollen wir real erleben. Aber vielleicht doch mehr, als wir uns bislang erlaubt haben? Ein erotisches Lebensgefühl, ohne Druck oder Leistungsstress, wer würde das nicht mögen? Warum leben wir die verzaubernde Kraft des Eros oft nicht? Was steht im Weg?
Der Klassiker: Von plötzlicher Verliebtheit überrascht bekommt Eros einen enormen Schub, lässt dann jedoch bald wieder nach und der Lebensstrom kehrt zurück in sein gewohntes Bett. Die ungebremste Kraft des Eros hat nur kurzfristig die Regie über unser Leben übernommen. Das ist normal. Könnte es aber auch anders sein?
Sicherheit oder Abenteuer
Unwahrscheinlich, denn dafür müssten wir einiges riskieren, und wer mag das schon? Neugier ist uns zwar in die Wiege gelegt, wir kommen mit einer unbändigen Lust auf Abenteuer auf die Welt. Abhängig, wie wir nach der Geburt sind, bringen wir allerdings ein mindestens genauso starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit mit. In unserer Kultur legen die meisten Menschen auch noch als Erwachsene darauf den größeren Wert. Übersteigerte Sicherheitserwartungen lassen wenig Raum für echtes Abenteuer, stattdessen schließen wir allerlei Versicherungen ab und begeben uns zur amüsanten Unterhaltung – mit der Fernbedienung in der Hand oder dem Finger auf der Tastatur – in virtuelle Welten. Dort erscheint das Leben noch abenteuerlich und wir genießen das Prickeln des Risikos. Doch wir lassen uns all die spannenden Risiken nur vorgaukeln, anstatt sie selbst zu erleben. Sie sind pure Illusion.
Das zu beklagen wäre wenig kreativ und machte unser Leben kaum erotischer. Was aber bringt echte Würze in die Suppe unseres Lebens?
Wenn du magst, nimm dir jetzt etwas Zeit für eine erotische Fantasie. Erlaube dir, darin zu schwelgen, in deinen Gedanken und Vorstellungen bist du bekanntermaßen frei. Was macht dich an, was lässt deine Zellen erwartungsvoll tanzen?
….
Wenn du dir tatsächlich Zeit für deine Fantasie genommen hast (die meisten werden es vermutlich nicht getan haben, nicht zuletzt, weil es sicherer ist, erstmal weiterzulesen …):
- Was von deiner Fantasie möchtest du tatsächlich erleben?
- Was bringt dein Herz dazu, schneller zu klopfen?
- Wird dir ein wenig mulmig?
Dann bist du womöglich auf einer verheißungsvollen Spur. Sie führt dich direkt zu Eros.
Eros ist wahrscheinlich unwahrscheinlich
Aus der Quantenphysik wissen wir seit über hundert Jahren, dass es im Kern der Materie, der vermeintlichen Hochburg der Sicherheit, keine Sicherheiten gibt, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten. Moderne Techniken (wie z.B. der Laser in jedem CD-Player), basieren im Prinzip auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Niemand kann sicher voraussagen, wie sich ein Elementarteilchen – oder ist es eine Welle? – verhalten wird. Doch im Frequenzbereich unserer menschlichen Sinneswahrnehmung werden Wahrscheinlichkeiten zu Sicherheiten, so empfinden wir das jedenfalls. Wenn wir den Apfel loslassen, fällt er, so einfach ist das. Gehorchte jedoch alles Leben dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit, gäbe es gar kein Leben. Die Entwicklung der Komplexität des Lebens war so extrem unwahrscheinlich, dass noch andere Gesetze am Werk sein müssen.
Ich nenne sie provisorisch Gesetze der Unwahrscheinlichkeit. Nach diesen Gesetzen zu handeln, also aus purer Lebensfreude das Unwahrscheinliche für möglich zu halten, das Ungewohnte zu riskieren und mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens zu spielen, ist einer der Königswege zum Erleben von mehr Eros im Leben.
Ich bin früh aufgestanden, entsprechend zerstreut betrete ich die Bäckerei. Ich habe einen langen Arbeitstag vor mir, ich darf gar nicht dran denken. Langsam hieve ich meinen Blick über die Theke, da trifft mich ihr Blick. Wie ein Blitz. Mein Herz beginnt zu pochen, ich bin vollkommen durcheinander, ich stammele „ein Buttercroissant, bitte“, meinen schweißnassen Fingern rutschen zwei Euro aus der Hand, sie hebt sie für mich auf und wünscht mir einen schönen Tag. Bestimmt knallrot im Gesicht stürme ich auf die Straße und werde fast von einem Fahrrad angefahren …
Amors Pfeil
In dieser Szene betritt plötzlich Eros die Bühne. Amors Pfeil trifft uns in Gestalt eines Augen-Blickes und katapultiert uns in eine andere Welt. Solche Momente sind nicht planbar, kommen vollkommen überraschend und dringen wohl meistens gar nicht zu uns durch. Doch wenn unser Abwehrsystem Lücken aufweist, kann es geschehen, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit.
Was dann folgt, ist in der Regel wieder vorhersehbar: Wir laufen davon. Wir beantworten die ungewöhnlichen Momente des Lebens meist sehr gewöhnlich.
Was aber, wenn wir riskieren, genauso ungewöhnlich zu antworten, wie wir den vorangegangenen Augenblick erlebt haben? Wenn wir aus der Routine ausbrechen und uns für die Magie des Augenblicks öffnen?
… ich nehme die Buttercroissants entgegen und schaue ihr noch einmal in die Augen. Ein Moment des Erkennens, es ist wie in einem Traum. Mein Herz schlägt wie wild. Ich: „Mein Herz schlägt wie wild!“
Sie (lächelt verlegen): „Jetzt werde ich ganz verlegen!“
Eine ältere Dame betritt den Laden. Soll ich gehen? Nein, keep cool, einfach nichts anmerken lassen, ich bleibe. Sie wird wieder gehen.
Als wir wieder allein sind, bitte ich um Papier und Stift, mit zittriger Hand reicht sie mir beides. Ich schreibe „Wegen eines unvorhergesehenen Glücksfalls vorübergehend geschlossen“ und reiche ihr das Blatt.
Herausfordernd schaue ich sie an. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, sie zögert. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht. Sie scheint am ganzen Körper zu zittern.
Dann nickt sie stumm und hängt den Zettel von außen an die Ladentür. Wieder drin murmelt sie rau: „Das wird mich den Job kosten.“ Doch dann strahlt sie mich an.
Ich bekomme weiche Knie. „Oh, nein, das geht gar nicht, wir können ja auch …“
Sie fällt mir ins Wort. „Jaja, schon gut, ich mach gleich wieder auf. Aber jetzt küss mich endlich!“
Ich nur: „Erst eine Umarmung, sonst falle ich in Ohnmacht …“
Was naheliegt, liegt doch so fern
Wenn wir auf die kleinen Impulse jenseits unserer Alltags-Gewohnheiten lauschen, liegt das Unwahrscheinliche manchmal sehr nah. Erschreckend nah. Möglichkeiten für lustvolles Risiko und kreative Umwege liegen oft direkt unter der Oberfläche unseres Alltags. Indem wir diese wahrnehmen, kann Eros erwachen. Er umfasst viel mehr als erotische oder gar sexuelle Interaktion. Eros ist das Spiel mit den (Un)-Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, wenn wir unsere Gewohnheits-Brille für einen Augenblick ablegen.
Ist das nicht alles weit hergeholt? Mag sein, dass sich innere Stimmen melden, die uns davor warnen, so etwas zu riskieren, denn wenn wir unseren unmittelbaren Impulsen lauschen und ihnen sogar folgen, machen wir uns verletzlich. Weit hergeholt handeln wir allerdings erst, wenn wir meinen, unbedingt erotisch, kreativ oder originell sein zu müssen. Eros mag kein Müssen, ist jedoch überall präsent und tanzt direkt vor unserer Nase.
Mit ihm zu tanzen kann auch mal schiefgehen, kann peinlich werden, kann wehtun. Aber warum nur fühlt es sich so an, als müssten wir sterben, wenn wir seine Einladung zum Tanz tatsächlich annehmen?
Vielleicht ist es ja nur ein kleiner Tod …
Herzliche Grüße
Saleem Matthias Riek