Nicht ausreichend gefühlte Emotionen belasten unser Leben
Die Dynamik unserer Gefühlswelt ist eines der am meisten missverstandenen Phänomene des Lebens. Die meisten Menschen in unserer Kultur gehen davon aus, dass es erstrebenswert sei, nur „gute Gefühle“ zu erleben und die „schlechten Gefühle“ so weit wie möglich aus unserem Leben zu verbannen. Doch Gefühle, die wir nicht spüren wollen oder können, sind damit nicht weg. Wir packen sie lediglich in unseren „emotionalen Rucksack“, von wo aus sie unser Leben mehr steuern als die meisten Menschen ahnen, und zwar auf ungesunde Weise.
In psychologischen Lehrbüchern findet man diese Thematik bis heute kaum, wohl weil intellektuell ausgebildeten Akademikern oft im wortwörtlichen Sinne die Einfühlung fehlt. Auch viele psychotherapeutische Ansätze vernachlässigen den heilsamen Umgang mit Gefühlen und versuchen stattdessen, diese zu manipulieren, von medikamentöser Behandlung ganz zu schweigen – wobei auch diese manchmal ihren Sinn haben kann.
Pionierarbeit und konkrete Praxis
Zu den dringend benötigten Pionieren mit der Zielsetzung, Gefühlen den ihnen gebührenden Platz einzuräumen, gehört Vivian Dittmar. Ich hatte nicht erwartet, dass sie nach ihrem Bestseller „Gefühle und Emotionen“ noch viel Neues bringen könnte, doch da habe ich mich getäuscht. „Der emotionale Rucksack“ bringt weiteren wesentlichen Erkenntnisgewinn für einen bewussteren Umgang vor allem mit emotionalen Altlasten, die wir mehr oder weniger in uns tragen.
Das Buch gliedert sich in drei Teile:
- Welche Altlasten („emotionales Gepäck“) tragen wir mit uns herum, wie machen sie sich bemerkbar und wie wirken sich auf unsere Beziehungen aus?
- Wie können wir bewusster mit unseren Altlasten umgehen und sie auf förderliche Weise entschärfen und integrieren?
- Wie leben wir ein emotional gesundes Leben („emotionale Hygiene“), in dem Gefühle und Emotionen den ihnen gebührenden Platz einnehmen?
Wie diese Fragen schon vermuten lassen, ist dies ein praktisches Buch mit alltagstauglichen Schritt-für-Schritt-Anleitungen, von der Frage, wie wir eine akute Aktivierung unverarbeiteter Gefühle erkennen über Möglichkeiten emotionaler Selbststeuerung bis hin zur konkreten Praxis der emotionalen Entladung.
Entladung bedeutet nicht Loswerden
Die Autorin greift dabei vor allem auf ihre eigenen Erfahrungen zurück, findet ihre eigenen, oft originellen Begriffe und anschauliche Bilder, mit denen sie emotionales Geschehen nachvollziehbar erklärt. So vergleicht sie die emotionale Verarbeitung mit einem Komposthaufen, bei dem man vieles falsch machen kann und dann auch keinen Humus erhält. Manche ihrer Begriffe sind zunächst missverständlich gewählt, was aber durch eine detaillierte Erläuterung kompensiert wird. So dient z.B. die empfohlene Übungspraxis der „emotionalen Entladung“ gerade nicht dazu, unangenehme Gefühle irgendwo abzuladen, sondern sie mit wohlwollender Anteilnahme zu fühlen, sie mit Bewusstsein zu durchdringen und zu integrieren. Und die „Zündschnur“ führt uns nicht zu einer Bombe, die dann in einer heftigen Katharsis zur Explosion zu bringen wäre, sondern führt uns wie ein Leitfaden in den unmittelbaren Kontakt mit dem, was in uns darauf wartet, gefühlt und verarbeitet zu werden.
Aha-Erlebnisse durch Unterschiedsbildung
Wesentliche Aha-Erlebnisse beschert das Buch durch erhellende Unterscheidungen:
- Mitgefühl verbindet uns, Mitleid trennt uns.
- Mit vermeintlich objektiven Absolutheitsansprüchen verweigern wir den Kontakt mit dem, was bereits existiert. Subjektive Wünsche und Bedürfnisse hingegen bringen uns in Kontakt mit dem, was ist, und eröffnen Einflussmöglichkeiten.
- Aus Absolutheitsansprüchen heraus generieren wir destruktive Schattengefühle, aus der Würdigung unserer Bedürfnisse heraus entwickeln wir konstruktive Gefühlskräfte.
- Meditation hilft, Abstand zu unseren Gefühlen zu gewinnen (was von Wert sein kann), echte Heilung braucht aber unmittelbare Zuwendung und Hingabe an unser Fühlen.
Der Ausstieg aus Beziehungsdramen
Im zwischenmenschlichen Kontakt führt der unbewusste Umgang mit emotionalen Altlasten und deren Aktivierung oft ins Beziehungsdrama, das durch das aus der Transaktionsanalyse bekannte Dramadreieck (Täter, Opfer, Retter) am Laufen gehalten wird. In diesem Teil des Buches habe ich zuweilen an die unseligen Debatten im Rahmen von #metoo gedacht. Wer das Dramadreieck in seiner Dynamik durchschaut, insbesondere wie es durch Absolutheitsansprüche („das darf nicht sein“) befeuert wird, versteht auch, dass der Ruf nach dem Retter Teil des Problems und nicht der Lösung ist.
Als Alternative dazu, jemanden im Falle einer akuten „emotionalen Aktivierung“ retten zu wollen, präsentiert Vivian Dittmar die heilende Kraft der Anteilnahme und des Raumgebens bzw. Raumhaltens. Diese Anteilnahme verdienen nicht nur „Opfer“, sondern auch „Retter“ und sogar „Täter“, wobei Anteilnahme nichts mit Rechtfertigung oder Verharmlosung zu tun hat, sondern mit der Bereitschaft, tatsächlich mit dem in Kontakt zu treten, worauf wir Einfluss nehmen wollen.
Wir können – und müssen – es nicht allein schaffen
Die Autorin erweist sich an vielen Stellen als wahre Menschenfreundin. Sie macht Mut, unsere Menschlichkeit in seiner Verletzlichkeit anzunehmen, indem sie auch immer wieder ihre eigenen Lernerfahrungen offenbart und konstatiert, dass es Zeit braucht, alte Wunden zu heilen. Zum Menschsein gehört auch, dass wir nicht alles allein schaffen, dass wir im Rucksack weggesteckte alte Emotionen oft nicht allein hochholen und integrieren können, sondern dass wir einander dafür brauchen.
Die Politische und gesellschaftliche Relevanz unseres Gefühlslebens
Der Ausblick am Ende des Buches ist leider knapp gehalten. Es würde sich lohnen, die Erkenntnisse über die vollkommen entgegengesetzte Dynamik abgelehnter Gefühle gegenüber der Dynamik angenommener Gefühle detailliert auf kollektive und gesellschaftliche Themen anzuwenden. Das Dramadreieck lässt sich auch im öffentlichen Raum unschwer wiederfinden, z.B. in vielen fruchtlosen politischen Debatten unserer Tage.
Ob Wachstums- und Konsumzwang, Flüchtlingskrise, Klimawandel oder Sexismus, solange wir uns unserer Absolutheitsansprüche als Schutz vor emotionalen Altlasten und deren Aktivierungen nicht bewusst sind, sind wir manipulierbar bzw. versuchen selbst, andere zu manipulieren. Wir sind dann weder in der Lage noch bereit, uns offen und transparent für unsere echten menschlichen Bedürfnisse einzusetzen.
Beginnen müssen wir mit dem Prozess der Integration abgespaltener und ungeliebter Gefühle bei uns selbst. Wie das genau geht, dazu gibt Vivian Dittmar vorzügliche Hilfestellung.
Vivian Dittmar: Der emotionale Rucksack
Goldmann-Kailash, 288 Seiten, 15 € Print, 11,99 € E-Book
ISBN Print: 978-3-424-63153-1
ISBN E-Book: 978-3-641-21569-9
Danke für den Buchtip. Lese gerade “ Gefühle und Emotionen “ und dieses Buch hat mir schon sehr geholfen, mehr Klarheit über mein derzeitiges Gefühlschaos zu bekommen. Bin schon gespannt auf das neue Buch, denn ich habe noch so einige Altlasten in meinem Rucksack und ich freue mich schon darauf, ihn auszupacken. ..
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