Wachstum oder Leben?

Was hält uns im Wachstumszwang gefangen? Wie könnte es anders aussehen?

Mit Corona erleben wir die größte weltweite Krise seit dem 2. Weltkrieg. Doch sie überdeckt nur eine weit größere Krise: diejenige unseres Ökosystems. Letztere ist viel bedrohlicher, aber auch leichter zu verdrängen als die Pandemie. Aber wie lange noch?

Die aktuelle Erfahrung, dass alles auch ganz anders kommen kann, stürzt manche in tiefe Verzweiflung. Zugleich birgt sie auch Anlass für Hoffnung. Damit die Menschheit sich wieder als Teil der Natur begreift und ihre Lebensweise entsprechend umgestaltet, braucht es radikale Veränderungen, vor allem unseres Wirtschaftssystems. Maßnahmen wie Tempolimit, CO2-Steuer oder die Subvention biologischer Landwirtschaft reichen bei weitem nicht aus.

Wie könnte ein umfassender Wandel aussehen? Gegenüber den Heilsversprechen totalitärer Systeme sind wir zu Recht misstrauisch. Einem lapidaren „Weiter so!“ sollten wir jedoch mit ebenso viel Skepsis begegnen. Doch was stattdessen?

Den Ansatz, den ich in diesem Text verfolge, könnte man „fantastisch“ nennen. Ich lasse zunächst meiner Fantasie freien Raum. Ich begrenze meine Ideen nicht sofort durch den Einwand, dass sie zu unterkomplex seien, alles andere als realistisch. Das stimmt. Doch weitreichende Veränderungen beginnen oft mit dem Mut zu träumen.

Warum nicht einen Gang runterschalten?

Ganz oben auf der Wunschliste meiner Träume steht eine Gesellschaft, die nicht auf Wirtschaftswachstum angewiesen ist, sondern mit ihrem Status quo in Frieden leben kann. Veränderungen und Wachstum wären nur noch optional. Warum können wir nicht mal einen Gang runter schalten? Warum bricht gleich alles zusammen, wenn wir eine Weile nur noch das Wichtigste kaufen?

Bereits auf der individuellen Ebene ist es nicht leicht, aus dem Hamsterrad auszusteigen. Wie bei einer Sucht stellen wir erst nach einer Zeit der Entwöhnung fest: Wir brauchen gar nicht so viel, um gut zu leben. Oft braucht es eine Krise als Initialzündung für Veränderung. Auch ich musste erst krank werden, um die Lektion zu lernen, meinen Alltag zu entschleunigen.

Auf der kollektiven Ebene ist das Runterschalten noch viel schwieriger, es gilt als Katastrophe. Wirtschaftswachstum ist oberstes Staatsziel, Dogma und Allheilmittel. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien stellt dieses Dogma ernsthaft in Frage, es wird nur manchmal grün oder rot eingefärbt. Eine Gesellschaft ohne Wachstumszwang ist ein gewagter Traum. Zu diesem Traum möchte ich ermutigen.

Die Materie scheint höchst kompliziert und nur für studierte Wirtschaftswissenschaftler zu begreifen. Viele Menschen wenden sich mit rauchendem Kopf wieder ab. Das ist schade, denn so lassen wir es weiter zu, dass Wachstum als alternativlos gelten kann. Noch wirksamer wird diese Botschaft in unserem Bewusstsein verankert, wenn sie sich im Subtext verbirgt und die Emotionen anspricht. Dann heißt es „Die Konjunkturdaten trüben sich ein“ oder „an der Börse herrscht Hochstimmung“. Aus der Sicht der Erde als Organismus wäre Rezession eine gute Aussicht. Es ist wie beim Wetter. „Heiter und trocken“ ist immer seltener eine gute Nachricht.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Frage, weshalb jeder Lockdown für die Wirtschaft ein Desaster nach sich zieht. Einfach gedacht sollte es möglich sein, dass alle für eine gewisse Zeit kürzertreten: weniger arbeiten, weniger verdienen und weniger konsumieren. Das könnte ein Nullsummenspiel sein. Doch das funktioniert nicht und zwar im Wesentlichen aus diesen drei Gründen:

  1. Wer bereits am Existenzminimum lebt, kann nicht einfach „kürzertreten“.
  2. Die höchst ungleiche Reduzierung von Arbeit und Konsum führt zu krassen Verwerfungen und verschärft die soziale Ungleichheit.
  3. Das Wirtschaftssystem verträgt prinzipiell weder Stagnation noch Rezession.

Der naive Blick in die Strukturen

In diesem Text geht es ausschließlich um das dritte Problem: den Wachstumszwang. Wie man zu weniger Produktion, Arbeit und Konsum kommen und diese Reduktion sozial und gerecht organisieren könnte, untersuche ich hier nicht.

Ich möchte das komplexe Thema auf ein paar Strukturen herunterbrechen, sodass die grundlegende Problematik sichtbar wird. Mein Ansatz ist zugegebenermaßen naiv und ich habe auch nichts Einschlägiges studiert. Es gibt allerdings Fachleute, die das für einen Vorteil halten, denn in BWL und VWL sei man oft blind für wesentliche Fragestellungen. Vielleicht braucht es unverdorbene Naivität, um sich nicht allzu schnell vom Wesentlichen abbringen zu lassen.

Stellen wir uns eine Dorfgemeinschaft vor, die autark wirtschaftet. Dort gibt es nur ein paar Grundberufe, die das Überleben sichern:Bauern für die Ernährung, Handwerker für das Dach über dem Kopf, Schmiede für Werkzeugbau. Dazu kommen Heiler für die Gesunderhaltung, Lehrer für die Bildung, Verkäufer für den Markt. Wenn alles gut läuft, leistet man sich noch Künstler, Seelsorger und Erfinder. Je größer und arbeitsteiliger die Gemeinschaft wird, desto eher braucht sie auch Verwalter, Politiker oder gar Ordnungshüter. (Wenn ich hier nur die männlichen Formen aufliste, so bitte ich hiermit darum, die weiblichen mitzudenken. Ein anderes Thema …)

Eine Gemeinschaft dieser Art wäre frei, mehr oder weniger zu produzieren, dementsprechend mehr oder weniger zu konsumieren und mehr oder weniger zu arbeiten. Wachstum wäre optional. Sogenannte primitive Völker lebten womöglich Jahrtausende ohne Wachstumszwang. Wenn sie konnten, legten sie Vorräte an, um Schwankungen auszugleichen, mussten aber nicht um jeden Preis expandieren – auch wenn sie das mitunter trotzdem taten, warum auch immer.

Man könnte meinen, es sei die höhere Komplexität, die größere Gesellschaften unter Druck setzt, immer mehr zu produzieren. Aus meiner Sicht ist dem nicht so. Woran liegt es dann?

Der Sündenfall: Zins und Zinseszins

Ein entscheidender Faktor ist das Geld- und Zinseszins-System. Fügen wir dem Dorf eine Bank hinzu. Diese vergibt gegen Zins und Zinseszins Kredite und ermöglicht damit, Waren und Dienstleistungen nicht nur hier und jetzt zu tauschen, sondern Wechsel auf die Zukunft auszustellen. Geldscheine sind nichts als bedrucktes Papier. Ihren Wert erhalten sie durch das Vertrauen, sie später gegen etwas anderes eintauschen zu können.

Wenn ein Kredit verzinst wird, müssen die Kreditnehmer bis zur Tilgung einen zusätzlichen Wert erschaffen gegenüber dem Wert zum Zeitpunkt der Kreditvergabe. Es kommt eine Spirale in Gang, denn um kostendeckend zu produzieren, müssen die Kreditkosten an die Kunden weitergegeben werden. Diese müssen ihrerseits auch mehr Geld aufbringen und demzufolge verdienen.

In so einem System landet immer mehr Geld bei der Bank, die ihren Gewinn an ihre Besitzer ausschüttet. In einer Dorfgemeinschaft mit nur einem Geldverleiher würde das schnell auffallen, der Banker wäre nicht sonderlich beliebt. In größeren Gesellschaften bewirkt das System eine permanente, verdeckte und schleichende Umverteilung von arm nach reich. Die Reichen können ihren Reichtum irgendwann gar nicht konsumieren und suchen nach Möglichkeiten, ihren Gewinn zu investieren („für sich arbeiten zu lassen“). Auf diese Weise dreht sich die Spirale noch schneller. Inzwischen hat sich die Finanzwirtschaft sogar weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt und gleicht einem Casino.

Das ist eine grobe Vereinfachung, aber das Prinzip sollte klar geworden sein: Seit das Dorf eine Bank hat, die Zins und Zinseszins verlangt (über eine angemessene Risiko- und Verwaltungspauschale hinaus), hat man ein Problem. Man kann nicht einfach weniger arbeiten und weniger konsumieren, denn Zinsforderungen müssen weiter bedient werden. Wenn dann noch verschiedene Unternehmen darum konkurrieren, möglichst viel Gewinn an die Bank abzuführen, weil sie so bevorzugt Kredite bekommen, gehen diejenigen pleite, die beim Wachstums-Wettlauf nicht mithalten können oder wollen.

Auch das noch: das Finanzamt will seinen Teil

Mit zunehmender Komplexität braucht das Dorf – das jetzt zu einer Stadt geworden ist – auch eine öffentliche Verwaltung. Diese wird meist über Steuern finanziert. Steuern werden bei uns in der Regel fällig, wenn Geld den Besitzer wechselt: die Mehrwertsteuer beim Einkaufen, die Einkommenssteuer beim Lohn, um zwei bekannte Beispiele zu nennen.

Die Höhe der Steuereinnahmen richtet sich nach der Geschwindigkeit, mit der das Geld zirkuliert. Je öfter es den Besitzer wechselt, desto mehr kassiert das Finanzamt.

Entscheidet nun die Dorfgemeinschaft, für eine Weile 30% weniger zu verbrauchen und 30% weniger zu produzieren, hat neben dem Kreditnehmer und der Bank auch das Finanzamt ein Problem: Auch die Steuereinnahmen sinken um 30%. Die öffentlichen Ausgaben und Dienstleistungen müssten im gleichen Maße reduziert werden. Das wäre wahrscheinlich kaum möglich.

Unser Wirtschaftssystem hat also mindestens drei Systemfehler, die es vom Wachstum abhängig machen:

  1. Weil bedingt durch das Finanzsystem bei Produktion und Dienstleistung permanent ein Teil der Wertschöpfung entzogen wird, um gewinnbringend neu investiert zu werden, muss die Wirtschaftsleistung ständig wachsen. Ansonsten kommt es schnell zur Krise. Durch Wachstum wird das Problem in die Zukunft verlagert und tendenziell immer größer, bis zum Crash.
  2. Unternehmen, die in Konkurrenz zu anderen stehen, gehen pleite, wenn sie nicht wachsen.
  3. Solange das Steuersystem davon abhängig ist, wie schnell das Geld zirkuliert, unterliegt es ebenso der Wachstumslogik.

Wenn wir ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem erschaffen wollen, das Schwankungen erlaubt – in dem sich also Phasen des Wachstums mit Phasen der Schrumpfung abwechseln können, ohne dass das System kollabiert – sind dies Punkte, wo wir ansetzen müssen.

Zinsen und Steuern werden zu Ungeheuern

In einem schwankungstoleranten System wäre es kein finanzielles Problem, wenn – zum Beispiel wegen einer Epidemie – eine Weile nur die notwendige Arbeit verrichtet würde. Was auf der einen Seite nicht verdient wird, würde auf der anderen auch nicht ausgegeben. Das ergäbe ein Nullsummenspiel, wenn nicht Banken und Finanzämter auf ihren Forderungen sitzenblieben. Die Einnahme von Steuern und die Vergabe von Krediten müsste anders organisiert werden, um aus der Wachstumslogik herauszukommen.

Das hätte viele weitere Vorteile. Berufe, die heute selbstverständlich sind, kommen in unserem Modell-Dorf nicht vor und wären ganz oder teilweise entbehrlich. Die Sozialverwaltung könnte durch ein allgemeines Grundeinkommen vereinfacht werden. Werbebranche, Unternehmensberater, Steuerberater, Anlageberater, Versicherungswirtschaft, Anwälte und weitere Berufe würden weitgehend entbehrlich, weil sie im bekannten Ausmaß nur in einer Konkurrenzwirtschaft gebraucht werden.

Dafür könnten andere Berufe hinzukommen, die uns das Leben versüßen: Gastwirte, Künstler, Masseure, Kulturschaffende aller Art u.v.a.

Konkurrieren oder kooperieren?

Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es. Das war hilfreich, solange schnelles Wachstum gefragt war. Heutzutage, wo wir zumindest in der westlichen Welt von Waren übersättigt sind, ist Kooperation gefragt, um das Geschäft zu beruhigen. Wenn die übriggebliebene Arbeit gerecht und sinnvoll verteilt würde, könnten alle weniger arbeiten.

Die zu leistende Arbeit könnte nochmal deutlich sinken, wenn wir weniger Gegenstände kaufen müssten, um Entfremdung und Frustration zu betäuben. Für viele Dienstleistungen bezahlen wir nur deswegen, weil sie dem zwischenmenschlichen, unentgeltlichen Geben und Nehmen entzogen und der Geldwirtschaft zugeführt wurden. Diesen Trend könnten wir umkehren. „Wir schaffen Arbeitsplätze“ klänge dann nicht mehr wie eine Verheißung, sondern wie eine Drohung.

Mit den Ressourcen unseres Planeten und unserem menschlichen Know-how könnten wir ein reiches Leben führen, auch wenn wir deutlich weniger konsumieren. Wir könnten darauf verzichten, andere Menschen in allen Teilen der Welt und die Natur auszubeuten. Wir könnten uns darauf besinnen, was uns als Menschen ausmacht: auf unsere Beziehungen, auf unser Eingebunden-Sein in Gemeinschaft und auf die potenziell grenzenlose Entwicklung unseres Bewusstseins.

Durch regionale Wirtschaftskreisläufe könnten wir krisenfester werden, überregionale Ausgleichsbewegungen könnten regionale Engpässe ausgleichen. Wir könnten immer noch Produkte aus anderen Erdteilen kaufen, die wir nicht vor Ort produzieren können. Diese müssten aber nicht mehr – wie heute oft üblich – zweimal um den Globus reisen, bis sie bei uns ankommen. Reisen in ferne Länder dienten der Völkerverständigung und Horizonterweiterung, als reine Ablenkungsindustrie würden sie entbehrlich. Mobilität würde so organisiert, dass nicht jeder die Straßen mit seiner privaten Kutsche blockiert, denn wir haben begriffen: Wir stehen nicht im Stau, wir sind der Stau.

Visionen denken

Wirtschaftswissenschaftler und Experten mögen über die Naivität meiner Gedanken den Kopf schütteln. Das sollte uns nicht davon abhalten, Visionen von einer anderen Lebens- und Wirtschaftsweise zu entwickeln. Wir müssen das Undenkbare denken, uns das Unvorstellbare vorstellen, sonst bleibt der Kapitalismus tatsächlich ohne Alternative. Damit wäre auch das nahende Ende menschlicher Zivilisation alternativlos.

Wir brauchen andere Strukturen, wenn wir in eine Kreislaufwirtschaft wechseln wollen. Selbst wenn wir uns solche Strukturen ausdenken, haben wir allerdings noch keine Kenntnis von möglichen Wegen dorthin. Eines der größten Probleme: Kapital reagiert wie ein scheues Reh, wenn es sich bedroht fühlt (manchmal allerdings auch wie ein Bulldozer, wobei das Kapital selbst natürlich kaum Gefühle hat …). Kein Land kann den Wandel in Zeiten der Globalisierung alleine bewerkstelligen. Eine Weltregierung mit diesem Ziel ist auch nicht in Sicht. Wir können aber kleine, überschaubare Gemeinschaften bilden, die sich in Richtung Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit und Solidarität entwickeln und zu Keimzellen einer anderen Kultur werden. Dies geschieht bereits an vielen kleinen Orten der Welt und macht Hoffnung.

Menschliche Schwäche oder Systemfehler?

Wie konnte es soweit kommen, dass die Menschheit mit ihrem Wachstumswahn ihre Lebensgrundlagen zerstört? Zwei Erklärungsansätze stehen sich gegenüber:

  1. Selbstsucht und Gier ist im Menschen angelegt und kann bestenfalls gezähmt werden.
  2. Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen. Das Konkurrenz-System hat sich verselbständigt und lässt ihm kaum eine andere Wahl, als Eigennutz über Gemeinwohl zu stellen. Am Ende dient dieses System niemandem, weil es alle zerstört.

In beiden Thesen spiegelt sich das jeweilige Verständnis von Natur und Evolution. Dominieren in der Natur vor allem Konkurrenz und „Survival of the fittest?“ oder sind es eher Symbiose und Kooperation? Für beide Sichtweisen finden wir Beispiele, aber was ist die Grundlage des Lebens?

Die menschliche Gier ist m.E. weniger die Ursache, sondern eher Symptom unseres Wirtschaftssystems, wobei sich beides gegenseitig verstärkt. Die Gesellschaft wird von uns Menschen gestaltet und unser Bewusstsein spiegelt sich in ihren Strukturen. Zugleich unterliegen wir wiederum den Zwängen dieser Strukturen und der daraus resultierenden Dynamik. Diese hat sich längst verselbständigt und separiert uns auf der individuellen Ebene in Gewinner und Verlierer. Gegen diese systemischen Zwänge hilft keine gutgemeinte Affirmation und auch nicht der Glaube, jeder Mensch sei seines Glückes Schmied. Es ist wie beim Fußball: Es können nicht alle Mannschaften Weltmeister werden, das Regelwerk lässt dies nicht zu. Genauso wenig können alle Menschen so reich werden wie die Gewinner in unserem Wirtschaftssystem.

Wenn wir weiter leben und wirtschaften wie bisher, verlieren alle. Es ist eine Banalität und muss doch immer wieder gesagt werden: Auf einem endlichen Planeten wird unendlich wachsender Ressourcenverbrauch unsere Lebensgrundlagen vernichten. Diese schlichte Erkenntnis, die bereits ein Grundschüler verstehen kann, müsste eigentlich auch Reiche und Mächtige dieser Welt davon überzeugen, das System zugunsten von Kooperation, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft umzugestalten. Wenn da nicht die erstaunliche menschliche Fähigkeit zu Verleugnung und Verdrängung wäre. Die Titanic steuert auf den Eisberg zu und wir beschäftigen uns mit der Optimierung des Schiffsantriebs.

Wohin mit der Ohnmacht?

Wenn wir die Notwendigkeit erkannt haben, dass sich unser Wirtschaftssystem radikal wandeln muss und zugleich mit ansehen, wie trotz massiver Proteste die Konjunktur angekurbelt werden soll, koste es, was es wolle: Was bleibt uns anderes übrig, als zu verzweifeln oder uns in resignativen Fatalismus zurückzuziehen? Wohin mit der Ohnmacht, mit der uns diese  Situation konfrontiert?

Dieser wunderbare Planet hält alles bereit, um nicht nur individuell, sondern auch kollektiv das Leben zu genießen. Der permanente Stress des höher, weiter und schneller ist nur eine Option. Wir könnten sie abwählen, wenn wir uns nur darauf einigen könnten. Doch der Zug, den die Coronakrise fast zum Anhalten gebracht hat, nimmt langsam wieder Fahrt auf, und zwar in die altbekannte, zerstörerische Richtung.

Was können wir als Individuen tun, um zu einer Entwicklung von Konkurrenz zu Kooperation beizutragen, ohne jede Gewissheit, dass der Menschheit dieser Wandel in ausreichendem Maße gelingen wird?

Was können wir tun?

  1. Innehalten. Um ein bestehendes System oder eine laufende Dynamik zu verändern, müssen wir zunächst innehalten und wahrnehmen, was ist.
  2. Träumen. Wir malen uns konkret und mit allen Sinnen aus, wie das Leben in einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft aussehen und wie es sich anfühlen könnte.
  3. Austauschen. Wir tauschen uns mit anderen Menschen über diese Themen aus, am besten so, dass bereits der Austausch uns nährt und motiviert.
  4. Sachverstand entwickeln. Wir arbeiten uns tiefer in die Materie ein und verstehen besser, was uns im Wachstumszwang gefangen hält und wie wir diesen überwinden könnten.
  5. Initiativ werden. Wir suchen Initiativen von Gleichgesinnten und schließen uns ihnen an oder gründen selbst welche.
  6. Ausprobieren. Wir erproben Elemente unserer Utopie im Nahbereich. Weniger arbeiten, weniger konsumieren, unsere Beziehungen pflegen und mehr Zeit für Wesentliches finden.
  7. Freude am Engagement. Wir achten darauf, uns nicht aufzureiben, sondern unser Engagement aus der Freude zu schöpfen. Wir freuen uns – trotz übermächtiger Herausforderungen – über jeden Schritt, den wir geschafft haben.
  8. Absicht als Kompass. Wir lassen uns von unseren Absichten leiten, ohne feste Erwartungen zu entwickeln. Veränderung geschieht selten so, wie wir uns das vorstellen. Unsere Absicht gibt die Richtung vor. Wenn diese stimmt, können wir leichter ertragen, dass das Ziel noch in weiter Ferne liegt.

Die meisten Menschen finden tiefe Befriedigung darin, zum Wohl anderer Menschen beizutragen, solange sie sich dabei nicht selbst vernachlässigen. Die beiden Pole – das individuelle Wohl und das Wohl aller – in eine sinnvolle Balance zu bringen, ist eine der wesentlichen Herausforderungen erwachsenen Menschseins.

Unser Wirtschaftssystem belohnt radikal die Orientierung am Eigennutz. Es handelt sich m.E. nicht primär um das Werk einer maßlos gierigen Elite, sondern um einen Systemfehler, der diese Eliten hervorbringt. Das Bild von dem Dorf, in dem es diesen Zwang noch nicht gibt, möge dazu anregen, die Ursachen für den systembedingten Wachstumszwang genau zu analysieren, um Alternativen zu entwickeln.

Der Systemfehler wird durch permanentes Wachstum nur kaschiert. Solange es immer mehr von allem gibt, scheint gerechte Verteilung entbehrlich. Wenn wir den Zwang zu permanentem Wachstum beenden wollen, kommen wir nicht umhin, eine neue Balance mit weit größerer Aufmerksamkeit auf dem Gemeinwohl zu finden. Nicht zuletzt die permanente Umverteilung von arm nach reich durch passives Einkommen muss ein Ende finden. Dazu gibt es viele wertvolle Ansätze, eine Auswahl findet sich in der nachstehenden Linkliste.

Es macht Menschen glücklich, wenn sie ihren Reichtum und ihre Fähigkeiten teilen können – solange sie nicht in Angst vor Mangel und Isolation gefangen sind. Kulturübergreifend fühlen sich Menschen am wohlsten in Gesellschaften, in denen soziale Unterschiede gering sind und Sicherheit weniger auf materiellem Besitz, sondern auf gemeinsamer Verantwortung und Solidarität aufgebaut ist.

Damit wir uns in diese Richtung entwickeln können, brauchen wir einen inneren Kompass. Wir brauchen eine Vision davon, wie wir leben möchten. Wir brauchen aber auch gesellschaftliche Strukturen, die eine solche Entwicklung befördern, anstatt sie zu behindern. Die Coronakrise führt uns überdeutlich vor Augen, wie anfällig unser Wirtschaftssystem ist. Dieser Tweet fasst es treffend zusammen: Was ist das für eine Wirtschaft, die zusammenbricht, wenn wir mal 8 Wochen nur kaufen, was wir wirklich brauchen?

Lasst uns Mut und Fantasie entwickeln, dieses System nicht weiter als alternativlos zu betrachten. Lasst uns das öffentlich zum Ausdruck bringen. Lasst uns Bedingungen schaffen, die es der Wirtschaft ermöglichen, unseren Bedürfnissen zu dienen statt umgekehrt. Und lasst uns die Weisheit entwickeln, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, auf dass wir von Konsumenten wieder zu Menschen werden.

Danke für die Aufmerksamkeit für dieses wichtige, aber für die meisten nicht unbedingt lustvoll besetzte Thema. Ich freue mich über konstruktive und weiterführende Kommentare.


Quellen und weiterführende Links

Finanzsystem und Wachstumszwang

Wirtschaft unter Wachstumszwang. Das Stabilitätsgesetz der Bundesrepublik von 1967 verpflichtet die Wirtschafts- und Haushaltspolitik des Bundes, für ein stetiges reales Wirtschaftswachstum zu sorgen. Text von Hans-Jürgen Fischbeck.

Wider den Wachstumszwang. Weniger verschwenden, mehr reparieren und bewusster konsumieren: Lässt sich damit unsere Wirtschaft verändern? Nein, meint der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger – denn die Wirtschaft unterliege einem Wachstumszwang.

Woraus resultiert der Wachstumszwang? Eine kritische Analyse zu Binswangers Theorie des Wachstumszwangs.

Wachstumszwang in der Geldwirtchaft? Theoretische Zugänge eines Wachstumszwangs in der Geldwirtschaft” von Oliver Richters.

Wachstumszwang in der Geldwirtschaft. Theoretische Erwägungen der DenkwerkZukunft.

Politik und Mechanik des Geldsystems. Was für die Zukunft der Erde und daher auch Europas wichtig wäre, ist eine öffentliche Debatte über die Frage, wer unter welchen Umständen und mit welcher Zielrichtung an Geld kommt. Von Dirk Ehnts.

Der Zins kommt nicht zurück. Eine Kolumne von Mark Schieritz.

Was wir vom Geld wissen, aber nicht glauben wollen. Der vom Geld regierten Welt geht es schlecht und schlechter. Wenn es die Ursache aller Zerstörungen ist, warum ziehen wir dann keine Konsequenzen daraus? Von Eske Bockelmann.

Wirtschaft und Kapitalismus

Schluss mit dem TINA -Prinzip („There Is No Alternative“). Die kapitalistische Lebensform schien lange alternativlos. Die Corona-Krise zeigt: Das ist ein Irrtum. Denkanstoss von Rahel Jaeggi.

Weniger Arbeit, weniger Konsum. Die Kontakteinschränkungen könnten anhalten, die Wirtschaft würde lange leiden. Nur wenn wir uns auf einem niedrigen Niveau einpendeln, könnten wir die Krise überstehen. Von Steffen Lange und Tilman Santarius.

Investieren für den Tag X. Im Moment geht es darum, Menschenleben zu retten. Trotzdem sollten wir schon jetzt über die Zeit nach der Corona-Krise nachdenken. Sechs Vorschläge für den Klimaschutz. Von Patrick Graichen.

Unser schicker Kapitalismus mit tödlichem Antlitz. Schuld an der Corona-Krise sind die Finanzoligarchie, die Politiker und wir: Denn die Globalisierung zugunsten der Oberschicht beruht auf Ausbeutung und Umweltzerstörung. Von Eugen Ruge.

It’s not the economy, stupid! Die Wirtschaft brummt, doch das gesellschaftliche Klima ist vergiftet. Bill Clintons Wahlkampfspruch „It’s the economy, stupid“ hat ausgedient. Jörn Quitzau über die Ursachen der Spaltung in der Gesellschaft.

Mehr als die Summe aller Märkte. Wer verstehen will, wie unsere Welt funktioniert, mag sich für ein VWL-Studium entscheiden. Nur leider wird das Fach immer noch zu selten interdisziplinär vermittelt. Von Uli Müller.

Wirtschaft nach Corona

Wegen Corona: Entwicklungsminister fordert Abkehr vom traditionellen Kapitalismus. Minister Gerd Müller sieht in der Corona-Krise auch einen Weckruf an die Menschheit. Die Forderung des CSU-Politikers: ein Umdenken in Sachen “Raubbau an der Natur”. Denn eben diesen macht Müller mitverantwortlich für die Pandemie.

Die Welt nach Corona. Die Corona-Rückwärts-Prognose: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise „vorbei” ist. Zukunftsforscher Matthias Horx über die Welt nach der Corona-Krise.

Wirtschaft nach Corona: Ihr dürft die Realität nicht ignorieren. Nutzen wir die Corona-Krise, um die Wirtschaft grüner zu machen, oder wird alles so weiterlaufen wie bisher? Eine Scheinwahl – eigentlich gibt es nur eine Option. Denn: Die Bedrohung durch den Klimawandel ist wegen Corona nicht weniger real. Ein Kommentar von Katharina Schmidt.

Söder will nach Corona Steuersenkungen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder will nach der Corona-Krise mit Steuersenkungen und Innovationsanreizen in der Automobilindustrie die Konjunktur ankurbeln.

Konjunkturpaket in der Corona-Krise. Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat vorgeworfen, die Beschäftigten der Automobilindustrie im Stich zu lassen. Nach den Beschäftigten der Energiebranche gebe die Sozialdemokratie mit ihrer eher grün-populistischen Ablehnung von Fördermitteln den nächsten Teil ihrer klassischen Wählerschaft auf. Klimapolitik sei ihr inzwischen wichtiger als die Interessenvertretung von Arbeitnehmern.

Wirtschaft und Klima

“Der Zusammenbruch der Zivilisation ist das wahrscheinlichste Ergebnis” Die renommiertesten Klimawissenschaftler und Biologen der Welt glauben, dass wir auf den Zusammenbruch der Zivilisation zusteuern, und es könnte bereits zu spät sein, den Kurs zu ändern. Von Will Steffen.

Nachhaltige Wirtschaft für Mensch und Umwelt „Donut-Theorie“: Amsterdam will ökonomische Neuordnung. Die Corona-Krise hat der Wirtschaft extrem geschadet. Doch während beispielsweise Deutschland versucht, mit Subventionsprogrammen das Bestehende zu retten, denkt Amsterdam über eine Neuordnung nach dem Donut-Prinzip nach. Der Vorteil: Die Wirtschaft würde nachhaltiger für Menschen und Umwelt.

Ein Boot namens Erde – Alles ist miteinander verbunden. Wir sitzen alle im selben Boot namens Erde. Danach auch zu handeln, hat noch nicht alle erreicht. Es gibt genug Mittel, dies in Gang zu setzen. von Aman.

Die Party ist vorbei. Was wir aus der Coronakrise für den Klimawandel lernen sollten. Viele Menschen zeigen in der Coronakrise eine starke innere Haltung. Diese Kraft braucht es auch, um die ökologische Katastrophe abzuwenden. Von Joachim Bauer.

Alternative Ansätze

Aus der Coronakrise in die Gemeinwohl-Ökonomie. Die Corona-Pandemie führt zu einer globalen Wirtschaftskrise. Für Christian Felber ist das der perfekte Moment, um die Systemfrage zu stellen. Seit Jahren plädiert er für einen Wandel vom Kapitalismus zur Gemeinwohl-Ökonomie.

Transformationsforscherin Maja Göpel bei Jung & Live #18. „Mit Maya als Leaderin der Welt würde ich mich entspannt und sorglos zurücklehnen und mich auf die Zukunft freuen“

Wo sind die Grünen, wenn man sie mal braucht? Von Tabus umstellt: In der Corona-Krise finden die Grünen nicht die richtigen Worte für die herrschende Systemkrise. Das ist fatal für die öffentliche Debatte. Von Bernd Ulrich.

Warum das Bruttoinlandsprodukt egal sein sollte | BIP Kritik erklärt in Wahn&Sinn Video

Wohlfahrtswirtschaft. Schottland, Island und Neuseeland gründeten die Gruppe der „Regierungen der Wohlfahrtswirtschaft“. Sie wollen den Fortschritt ihrer Wirtschaft nicht mehr nur anhand des BIPs messen.Von Marco Pühringer.

Bruttonationalglück. (BNG, englisch: Gross National Happiness, GNH) ist der Versuch, den Lebensstandard in breit gestreuter, humanistischer und psychologischer Weise zu definieren und somit dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, einem ausschließlich durch Geldflüsse bestimmten Maß, einen ganzheitlicheren Bezugsrahmen gegenüberzustellen.

Was sind Commons? Commons sind gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen unterschiedlicher Art.

Netzwerk Solidarische Landwirtschaft. In der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) tragen mehrere private Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs, wofür sie im Gegenzug dessen Ernteertrag erhalten.

GLS Bank. Hast du dir schon mal die Frage gestellt, was deine Bank mit einem Geld macht? Wie wird es investiert? Welche Kriterien spielen dabei eine Rolle?

Design the Disaster! All jenen, die zweifeln, sei gesagt: Lieber eine Katastrophe mit als eine Katastrophe ohne Perspektive. Wir haben die Chance, eine Katastrophe abzuwenden, die uns über viele Jahrzehnte hinweg die Möglichkeiten nimmt, unser Leben lebenswert zu gestalten. Wir sollten sie nutzen. Erhalten wir uns allen, erhalten wir vor allem aber den jungen Menschen die Hoffnung, dass es nach dem Crash einen Neuanfang gibt, der diesen Namen verdient. Von Frank Augustin

Über Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge und lebt bei Freiburg im Breisgau. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Bisher erschienen sind "Herzenslust" (auch als Hörbuch), "Leben, Lieben und Nicht Wissen", "Herzensfeuer", "Lustvoll Mann sein" und "Mysterien des Lebens". Weitere Bücher sind in Vorbereitung, u.a. eine Romantrilogie.
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10 Antworten zu Wachstum oder Leben?

  1. Markus Koch sagt:

    Erst wenn wir den Schritt gehen, heraus aus der Maschinerie, die nach Wachstum schreit, werden wir erwachsen sein können.
    Hören wir auf, unsere Talente und Kräfte dem körperlich-materiellen Wachstum zur Verfügung zu stellen, und gehen in Charakterentwicklung und Bewusstseinswachstum über. Alles andere hält uns im „ewig jugendlich/halbstark“ Modus gefangen.
    Dieses Jahrzehnt braucht unser klares Bekenntnis, ob wir einzeln und als Menschheit voll zu Erwachsenen heranreifen wollen.

    Grüße Markus

    (… Koch, 71384 Weinstadt)

  2. Brigitte Göddert-Hecker sagt:

    lieber Saleem,
    ich freue mich seehr, das du dieses Thema gewählt hast und dich damit zeigst!
    Ich bin auch der Meinung, wenn sich mehr Menschen dieses Themas bewusst werden, vieles sich von alleine löst. Denn das Problem ist menschengemacht und der Mensch kann die Eigenschaften des Geldes wieder verändern, aber der Bedarf muss von unten kommen, diejenigen die viel Geld und Macht besitzen, werden das nicht so sehen.
    Ich sehe, das viel in Bewegung ist, bei uns in Olching, westlich von München findet sonntags schon seit Wochen eine Demo zu Grundrechten statt und kommenden Sonntag kommt ein Redner Prof. Chr. Kreiß, der schon über „Profit Wahn“ geschrieben hat. In Augsburg gibt es einen Kreis von Menschen, die sich um das Thema fliessendes Geld im Augenblich in Telefonkonferenzen austauschen, um nur einige Beispiele zu nennen. Danke auch für deine Recherche, für die ich noch etwas Zeit brauche sie durch zu schauen.
    Brigitte

  3. seinswandel sagt:

    Lieber Saleem, schön, dass du dich diesem Thema angenommen hast. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, aus den gewohnten Bahnen herauszutreten. Doch das ist leider wirklich nicht einfach. Das gegenwärtige Geld- und Wirtschaftssystem ist Ausdruck und Spiegel der metaphyischen Verfassung des Menschen. Auch wenn es frustrierend ist, wir sollten uns klar machen, wie sehr darin verstrickt sind. Daher ein paar Anmerkungen zu deinen Überlegungen.
    (1) Sowohl Geld als auch Zins gibt es schon sehr viel länger als das dynamische, kapitalistische Wirtschaftssystem. Die neoklassische Ökonomik geht bis heute davon aus, dass sich Geld gleichsam zwanglos aus geldlosem Tausch entwickelt hat. Diese Annahme ist ein Märchen. Geld wurde möglich, weil es mächtige zentrale Akteure gab, die es durchsetzen konnten. Das waren zuerst religiöse Institutionen, also Tempel. Diese waren auch in der Lage Zins zu verlangen. Es ist wenig plausibel anzunehmen, dass sich der Zins aus Reziprozität, also etwa aus tauschloser Gabe heraus entwickelt. Nur ein mit besonderer Autorität versehener Akteur konnte sich über die herkömmlichen, außerordentlich stabilen Reziprozitätsnormen hinwegsetzen können. „Die Tempel waren in der Lage, Zwangsabgaben zu erheben, und sie waren in der Lage, einen Zins zu verlangen, weil ihre Gegenleistung über das hinausging, was man von seinesgleichen verlangen durfte. Den Göttern zu opfern versprach Schonung vor größerem Unheil, ja diente dem Erhalt der kosmischen Ordnung.“
    Dein Szenario mit dem Dorf, d.h. von einer stationären Wirtschaft, und dann kommt plötzlich (woher? warum?) eine Bank, hat mit tatsächlichen historischen Entwicklungen wenig zu tun. D.h. die Einsetzung von Geld und Zins war von Beginn an mit macht- und gewaltvoller Durchsetzung verbunden, hatte zugleich aber oftmals auch die Funktion der Einhegung von Gewalt. Für eine erste Einführung sehr übersichtlich: Paul, A. T. (2017): Theorie des Geldes zur Einführung. Hamburg: Junius.

    (2) Warum hält sich das Kapitalismus genannte dynamische, auf Wachstum beruhende Wirtschaftsmodell so beharrlich? Nun, die Diskussionen füllen Bibliotheken. Ganz knapp: Was leistet die dynamische Wirtschaft? (a) Die Versorgung von sehr großen (!) Gesellschaften mit Gütern durch einen dezentralen Mechanismus (Markt, Angebot/Nachfrage). (b) Eine gewisse Befriedung durch gewaltlosen Tausch und formell freie Arbeit. Im weiteren historische Verlauf auch Befriedung durch ökonomische Verflechtung. (c) Prosperität durch Innovation.

    Das ist ein weites Feld. D.h. nicht, dass alles alternativ los wäre. Aber es scheint doch illusorisch, mal eben ein neues Wirtschaftssystem zu installieren, wie man auf einem Computer ein Betriebssystem installiert. Es gibt viele interessante Überlegungen. Eine Finanztransaktionssteuer uvm. wären Maßnahmen, um zumindest die schlimmsten Auswüchse zu regulieren. Vermutlich müsste man Wege finden, um Kapital (durch sehr hohe Zinsen?) sehr teuer zu machen, um die Innovationsdynamik (bis auf ausgewählte Bereiche) sehr stark zu bremsen.
    Liebe Grüße, Steven

  4. Markus Koch sagt:

    Nochmal etwas meinerseits:

    1. Zu Steven’s Anmerkungen – es gibt ein für mich sehr aufschlussreiches Buch zur Geschichte der Maschinierie bzw. unserer Geld/Zins Kulturen von Fabian Scheidler, „Das Ende der Megamaschine“.

    Zudem die Anmerkung, dass das Problem ja wohl auch darin besteht, dass es am Ende einer Spielrunde (Zins pro Jahr) diesen Zins gar nicht gibt, auf dem Spielfeld. Daher müssen sich sich alle entweder „friedlich“ abrackern und hoffen sich durch höhere Produktivität erneut verschulden zu dürfen, oder sie müssen sich aggressiv um das vorhandene Geld balgen, um es milde auszudrücken. Nur so können sie den geforderten Zins leisten.
    Logischerweise gibt es dabei immer Verlierer. Und manche davon gehen mit der Niederlage nicht friedfertig um.

    Im Alten Testament wohl hatten die Menschen in den alten geld-orientierten Reichen des Orients schon dieses Problem erkannt und das Thema Zinsverbot bzw. -erlass aufgegriffen und Regeln erlassen. Fragmente davon sind wohl im Zunsverbot im Islam noch erkennbar.

    In dem Zusammenhang möge auch jeder von uns und auch jede gute Stiftung in diesem Land schauen, auf welche Weise und durch welche Maschinerie die Erträge für die Rentenabsicherung und die wohlfeilen Gaben an die Gemeinschaft „erarbeitet“ werden.

    2. Aus meiner Warte als ein von der Liebe und der Zeitlosigkeit gebeuteltes und gleichsam berührtes Wesen, „gefangen“ in einem menschlichen Körper, ist der historische Kontext eine letztlich nicht allzu wichtige Fragestellung, genauso wenig wie eine womöglich uns innewohnende Gier.
    Darin finde ich mich nicht wieder. Es sind schöne Geschichten für das „Ego“. Tummelplätze für Wissen.

    In Wahrheit aber begegnen wir doch immer Gott, im Außen. Einem vielgesichtigen Gott, samt einem Abenteuerland Leben, in dem Gut und Böse, friedvolles Gestalten und auch kriegerisches Zerstören existieren.
    Und alles ist Spiel.

    Und da winke ich Dir freudig zu – Ja, es geht doch letztlich darum, das Leben mit Freude zu
    spielen. Nicht immer einfach, das Heitere und Vitale, das Freudebringende, im Dschungel Alltag zu spüren und zu leben.
    Aber auch dem Ritter in Dornröschen ging es sicher nicht anders, als er die Dornenhecke zu durchdringen suchte, auf dem Weg zu seinem Lebensglück.

    Lasst und als Spielen, weise und bedacht, auf das Wohle aller empfindungsfägigen Wesen um uns herum. Ein jedes ist am Ende Gott, und Spiegel meiner Selbst. Ganz im Sinne von „Wie wir in Wald gehen, so kommt ES zurück“

  5. Qniemiec sagt:

    Hallo Saleem, auch wenn meine Wortwahl vielleicht „ketzerisch“ klingen mag: die Erfindung des Geldes hat uns damit ja quasi auch aus dem „Gefangensein im Hier und Jetzt“, in das man davor eingesperrt war, befreit: wo sich vorher der Erdbeerbauer bestenfalls ein paar Tage von den Früchten seiner Arbeit ernähren (oder sie gegen irgendwas anderes Essbares eintauschen und dann halt vom _diesem_ anderen Essbaren leben) konnte, kann er das nun unabhängig von Ort und Zeit. Denn gegen _Geld_ eingetauscht, kann er seine Erdbeeren, ggf. in Form von was anderem, nun gewissermaßen rund um’s Jahr verfrühstücken, selbst im Dezember, wenn seine _realen_ Erdbeeren auf dem Feld längst verrottet wären. Doch auch an jedem anderen als seinem Ort auf dieser Erde, wo er das für die Erdbeeren erhaltene Geld dann wieder retour in Essbares tauschen kann, aus seinen Erdbeeren plötzlich bspw. Bananen oder Ananas werden. Kurzum: mit dem Gegenwert seiner Feldfrüchte in Form von Geld ist dieser unser Bauer nun endlich erstmal ein „freier Mann“.

    Na ja, und dann passiert halt praktisch immer, dass sich zunächst Heilbringendes – wie der Verbrennungsmotor, die Energiegewinnung aus der Kernspaltung, Plastik und Pestizide – über kurz oder lang ins Gegenteil verkehrt, aus dem Heilbringer ein Unheilbringer wird. Denn die Möglichkeit, sich dank des Geldes quasi unbeschwert in Raum und Zeit bewegen zu können, führt irgendwann auch zu der Überlegung, dass man seine Erdbeeren doch auch schon verfrühstücken könnte, bevor die tatsächlich geerntet, geschweige verkauft sind. Und dafür, dass jemand uns das wahr zu machen hilft, indem er uns eine Kredit gibt, will der natürlich – Leistung gegen Leistung! – auch was zurück, das in diesem Fall dann „Zinsen“ heißt. Will sagen: wenn ich das himmelblaue Auto, das ich mir aus eigener Tasche eigentlich erst in einem Jahr leisten könnte, schon morgen haben will, ist das ein „geldwerter Voreil“, für den ich dann halt was auf den Kaufpreis des Autos oben drauflegen muss. So zumindest sehen es die „Kreditinstitute“, also: dass man all den Leuten, die’s nicht abwarten können, mit ’nem Kredit doch eigentlich nur Gutes tut und für diese „Finanzdienstleistung“ dann halt gern auch ’ne kleine Belohnung hätte…

    Das Interessanteste an all dem freilich ist für mich weniger die Ökonomie als vielmehr die dahinter stehende Philosophie, also, dass sich Geldausgeben und -verdienen seit meiner Kindheit immer mehr in Richtung Zukunft verschoben haben – wir immer häufiger das, was wir eigentlich erst zukünftig „konsumieren“ (können), mit Geld bezahlen, das wir eigentlich auch noch gar nicht verdient haben. Wobei ich denke, dass das zumindest einer der Kerne des Pudels ist, also das freie Sich-hin-und-her-Bewegen-Können _auf der Zeitachse_ eines der Fundamente bildet, auf dem unser _modernes_ Finanzsystem mit all seinen Schwächen und Abgründen fußt. Statt der einst vorherrschenden Flucht in die Vergangenheit nun also eine in die Zukunft? Ich denke, wenn man darüber nachdenkt, kann da so einiges in uns Schlummerndes zum Vorschein kommen.

  6. Timo Ollech sagt:

    Hallo Saleem, dein Beitrag fasst die Situation ziemlich gut zusammen, mit einer Ausnahme: historisch war das Finanzamt zuerst da, die Banken (und auch ihre Vorläufer, die Geldverleiher) kamen viel später. James C. Scott zitiert ein sumerisches (!) Sprichwort: „Man kann einen König haben und einen Herrn, aber fürchten muss man den Steuereintreiber.“
    Überhaupt kann ich sein Buch „Die Mühlen der Zivilisation“ nur wärmstens empfehlen, es ist sehr erhellend: https://www.suhrkamp.de/buecher/die_muehlen_der_zivilisation-james_c_scott_58729.html
    Eine Kostprobe gibt es z.B. im Oya-Artikel „Zukunft säen, Lebendigkeit ernten“: https://oya-online.de/article/read/3037-.html

    Aus diesen Gründen finde ich es zwiespältig, auf den Staat als vermeintlichen Gegenspieler der kapitalistischen Konzerne zu setzen. Die sind viel mehr Komplizen als sie uns öffentlich weismachen wollen.
    Auf der anderen Seite sind unsere demokratischen Staaten zumindest theoretisch dem Wohl ihrer Bürger verpflichtet; die Konzerne nur dem Wohl ihrer Aktionäre.

    Deine 8 Punkte „Was können wir tun?“ zeigen drum auch deutlich, dass wir uns weder auf den Markt noch auf den Staat verlassen können, sondern die Sache am besten in die eigenen Hände nehmen.

  7. Timo Ollech sagt:

    Noch ein Linktipp: Das Netzwerk Oekonomischer Wandel (NOW) https://www.netzwerk-oekonomischer-wandel.org/

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