Schule des Seins Newsletter April 2020

Liebe Freunde des Seins,

was soll ich mitteilen? Seit sehr langer Zeit verbringe ich Ostern mal nicht im Seminarhaus. Und die Schule des Seins steht still.
Derweil wandelt sich die Welt in atemberaubender Geschwindigkeit. Wir stehen vor der vielleicht größten Herausforderung unseres bisherigen Lebens – zumindest was die kollektive Ebene angeht.

Genau genommen handelt es sich um eine Hereinforderung. Wir sollen zuhause bleiben. Für manche von uns ist das eine leichte Übung, vielleicht genießen wir sogar die Entschleunigung, die Gelegenheit zur Besinnung, das Ankommen im Sein statt im Tun.
Aber ich möchte nichts beschönigen. Für andere ist es ein Horrortrip, sie fühlen sich eingesperrt, ob nun allein oder – manchmal noch schlimmer – mit Menschen, denen sie auf einmal nicht mehr aus dem Weg gehen können. Wenn wir allerdings die Verhältnisse bei uns mit denen in anderen Ländern vergleichen, dann sind auch das noch Luxusprobleme.

Wie ist es für dich?

Die Kunst des Seins – im normalen Leben angekommen

Für mich hat sich – vor allem was meine Arbeit betrifft – vieles verändert. Wann werden die Seminare und Trainings wieder stattfinden können? Physical oder social distancing im Tantrakurs, das klingt nach einem schlechten Scherz.

Doch wir können es auch anders sehen: „Der Workshop zur Kunst des Seins ist im normalen Leben angekommen und betrifft jetzt alle. Wie gut gibt es Menschen mit Erfahrung damit…🌈“ schrieb mir kürzlich ein früherer Kursteilnehmer.

Vielleicht war es noch nie so wichtig, wirklich mit dem sein zu können, was ist. Unsere Vorstellung davon, wie es sein sollte, in den Hintergrund treten lassen und uns der Wirklichkeit zuwenden. Einer Wirklichkeit, die wir bis vor wenigen Wochen kaum für möglich gehalten haben. Manche halten sie sogar jetzt noch für einen Fake.

Vieles, was wir im Coronaschock erleben, ähnelt dem Klimaschock, nur dass jetzt alles im Zeitraffer abläuft. In meinem Blogbeitrag zum Klimaschock habe ich auf die Parallelen zu den Phasen hingewiesen, die Elisabeth Kübler-Ross bei Empfängern lebensbedrohlicher Diagnosen beobachtet hat. Die erste Phase ist meist durch Verleugnung gekennzeichnet.

Wir können, aber wir müssen nicht dabei stehen bleiben. In einem Videotalk habe ich mit Adriana Feldhege darüber gesprochen, wie wir mit der Krise umgehen und auch deren Chancen erkennen können.

Chancen sehe ich sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene.

Chancen auf der persönlichen Ebene

  • Nachdem die Routine aufgebrochen und nichts mehr sicher ist: Wie gehen wir mit der einzigen Tatsache um, die absolut sicher ist? Wir werden – früher oder später – sterben. Was bedeutet das für unser Leben?
  • Wo wir uns nicht mehr so leicht ablenken können: Wie gestalten wir unsere Beziehung zu uns selbst?
  • Wie nutzen wir sinnvoll die Kraft intensiver Gefühle, die Corona in uns ausgelöst? Welches Potenzial steckt in unserer Angst, Wut und Trauer, aber auch in unserer Freude?
  • Wie gehen wir mit der Unsicherheit um, wie lange die Einschränkungen unseres Lebenswandels anhalten werden? Welche Ressourcen helfen uns, unser Nichtwissen anzunehmen und uns dabei weder in Illusionen zu flüchten noch uns hinter vermeintlichem Nichtwissen zu verstecken?
  • Bei den arg reduzierten Möglichkeiten für Kontakt: Wie kultivieren wie Liebe und Mitgefühl? Wie schaffen wir uns innere Freiräume, wo es im Außen eng wird? Wie setzen wir Prioritäten?
  • Wie bewohnen wir unseren Körper, solange Körperkontakt nur eingeschränkt möglich ist? Wie können wir unseren Körper ganz für uns wertschätzen oder gar genießen?
  • Wenn alte Verletzungen oder Traumata in uns berührt sind: Wie sorgen wir für emotionale Selbstregulation? Wen fragen wir um Hilfe, wenn wir sie brauchen?
  • Und last not least fühlen wir jetzt vielleicht eine größere Motivation, uns Folgendes zu fragen: Wie wollen wir leben? Was ist uns wirklich wichtig? Was liegt uns am Herzen?

Vielleicht wünschst du dir lieber Antworten von mir als Fragen. Leider habe ich keine, die für jeden hilfreich wären.

Verschiedene Perspektiven respektieren

Ich bekam einige Rückmeldungen zu meinen Posts auf Facebook. Viele haben mir für die Orientierung gedankt, insbesondere angesichts der Flut von Irreführung und Fakenews. Mich hat schockiert, wie stark diese insbesondere in spirituellen Kreisen verbreitet wurden: Man solle Panikmacher statt Virusträger isolieren und die Krankenhäuser in Italien seien nur aufgrund medialer Panikmache überfüllt. Dass ich so etwas nur schwer ertragen konnte, hat durchaus auch etwas mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, wie ich inzwischen herausgefunden habe. Ist ja meistens so, dass es uns etwas spiegelt, wenn wir sehr emotional werden.

Aber das ist nicht alles. Ich sah Gefahr in Verzug, wenn die exponentielle Kurve der Neuinfektionen nicht zeitnah gebremst wird, was sich inzwischen als allzu berechtigt herausgestellt hat. Daher habe ich meine Einflussmöglichkeiten genutzt, und das würde ich auch wieder tun.
Einige Wenige hat meine klare Positionierung offenbar irritiert. Galt plötzlich nicht mehr, wozu ich unzählige Male in Gruppen ermutigt habe: Verschiedene Perspektiven gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen?
Diese Haltung finde ich immer noch hilfreich und wertvoll. Aber es gibt Ausnahmen. Wenn die Hütte brennt, eine Tsunamiwarnung rausgeht oder ein AKW zu schmelzen droht, haben wir nicht die Zeit, in Ruhe auszudiskutieren, ob das überhaupt stimmt oder was zu tun ist. Wenn es sich nicht um eine ganz offensichtliche Falschmeldung handelt, tun wir, was als Sofortmaßnahme notwendig ist. Und dann sehen wir weiter. Letzteres geschieht jetzt, Ausgang offen.

Auf meinem privaten Facebook-Account bin ich übrigens nicht als Gruppenleiter unterwegs, sondern als Saleem. Wenn du mich nur als Seminarleiter kennst, kann es durchaus irritieren, wenn ich klar Stellung beziehe. Vor allem dann, wenn noch Autoritätsthemen im Spiel sind.

Autoritätsthemen

Ich frage mich, ob ich für die Arbeit an Autoritätsthemen in meinen Gruppen zu wenig Gelegenheit gebe. Aufgrund meiner annehmenden Haltung kann man sich schwer an mir reiben. Du bist ja stets eingeladen, es so zu machen, wie es für dich stimmt. Wie wichtig Mama- und Papa-Themen sind, weiß ich auch aus meiner eigenen Geschichte. Gruppenleiter und Therapeutinnen hatten es nicht immer leicht mit mir …
Für eine reife Zivilgesellschaft ist die Auseinandersetzung mit Autoritätsthemen essenziell. Blinden Gehorsam halte ich für genauso gefährlich wie blinde Rebellion gegen „die da oben“. Hier ist Differenzierungsvermögen gefragt. Was meinst du?

Chancen für unsere Gesellschaft

Auch auf der kollektive Ebene sehe ich viele Chancen. Hier ist es womöglich noch wichtiger sie zu ergreifen:

  • In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wollen wir wirklich zurück zum ganz normalen Wahnsinn einer Konsumgesellschaft, die die Lebensgrundlagen unseres Planeten zerstört?
  • Welche Alternativen gibt es zu einem Wirtschaftssystem, das auf Wachstum angewiesen ist wie der Suchtkranke auf den Stoff?
  • Die Coronakrise ist nur Vorgeschmack der Folgen von Klimawandel und Naturzerstörung. Wann – wenn nicht jetzt – beginnen wir radikal umzusteuern?
  • Wie wäre es, wenn Solidarität und Kooperation zum gesellschaftlichen Leitbild werden? Konkurrenz könnte gepflegt werden, wo sie Freude macht und ihr zugleich Grenzen gesetzt werden wie z.B. im Sport.
  • Wollen wir weiter ausblenden, dass unser Reichtum auf Kosten anderer geht, vor allem in anderen Teilen der Welt? Geht es uns gut damit? Oder wollen wir uns dafür einsetzen, dass sich weltweit etwas ändert?

Das mag moralisch oder pathetisch klingen, doch für mich haben diese Fragen auch unmittelbar mit meinem eigenen Wohlbefinden zu tun. Was immer ich ausblende, hat seinen Preis. Ich mache mir etwas vor und bin nicht mehr mit allem, was ist.

Ist Tantra politisch?

Haben die Fragen auch etwas mit Tantra zu tun? Ist Tantra politisch? Ich beobachte sowohl beim Thema Klima als auch bezüglich Corona ein erstaunliches Schweigen vieler Kolleginnen und Kollegen. Wir haben im Tantranetz-Newsletter beides zu Schwerpunktthemen machen wollen, doch es gab dazu kaum Textangebote. Ist Tantra lediglich eine Wohlfühl-Nische für Lust und Liebe? Ist die Verbundenheit mit allem, was ist – aus meiner Sicht der Kern von Tantra – nur eine Floskel, die sich gut anfühlt? Oder ist mehr dahinter und wir stellen uns auch der Verantwortung, die sich daraus ergibt?
Keine bequemen Fragen, ich weiß, aber mir liegen sie am Herzen. Mein Herz schlägt dafür, dass das, was wir im Gruppenraum erleben und erforschen, auch für die Welt da draußen fruchtbar werden kann. Mehr dazu im nächsten Tantranetz-Newsletter.

Soviel für heute. Ich wünsche dir, dass du bei allen schmerzhaften Prozessen, die diese Zeit vielleicht für dich mit sich bringt, auch Momente des Glücks und der tiefen Verbundenheit erlebst, mit dir selbst, mit anderen Menschen, mit dem Leben.

Ich freue mich darauf, euch zu gegebener Zeit auch wieder im Gruppenraum begrüßen zu dürfen. Wann immer das sein wird. Die jeweils aktualisierten Infos dazu findest du auf unserer Homepage.

Alles Liebe und bleib gesund!

Saleem

Über Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge und lebt bei Freiburg im Breisgau. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Bisher erschienen sind "Herzenslust" (auch als Hörbuch), "Leben, Lieben und Nicht Wissen", "Herzensfeuer", "Lustvoll Mann sein" und "Mysterien des Lebens". Weitere Bücher sind in Vorbereitung, u.a. eine Romantrilogie.
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8 Antworten zu Schule des Seins Newsletter April 2020

  1. Sugata sagt:

    Hallo Saleem,

    danke für diesen wieder mal sehr guten Blog-Eintrag von dir. In Sachen Verhalten während der Corona-Epidemie habe ich eine ähnliche Haltung wie du: Es könnte sein, dass Drosten & Co Recht haben, deshalb sollten wir den Maßnahmen Folge leisten. Sicherheitshalber. Jedenfalls sollten wir physisch Abstand halten zu allen, mit denen wir nicht im selben Haushalt leben.
    Und zu dem Punkt ‚Autoritätsthemen‘: Auch das – gut, dass du es ansprichst. Und es mit diesem wunderbaren Bild illustrierst: nicht Gott und Adam, wie bei Michelangelo, sondern die große und die kleine Hand, die mächtige und die vermeintlich schwache.

    Nun noch zu dem letzten Punkt deines Eintrags: Ist Tantra politisch? Klar ist Tantra politisch!!! Hoch politisch. Ich hatte dafür ja einen Text für den TNL eingereicht, leider kam sonst fast nichts an Texten, wahrscheinlich, weil alle mit Corona beschäftigt sind. Ich hoffe, dass Klaus das noch veröffentlicht, mit anderen Stimmen aus der Szene. ‚Make love, not war‘, das gilt doch immer noch, und vieles andere auch, worin Tantra mit ‚der großen Politik‘ verknüpft ist.

  2. Pingback: Medientipps und Links - Tantranetz

  3. Corinna sagt:

    Lieber Saleem,

    wie immer sehr nach innen führend, Deine Gedanken. Danke!

    Besonders hat mir die Frage gefallen, ob wir weiterhin ausblenden wollen, dass unser Reichtum auf Kosten anderer geht und ob es uns denn gut damit geht? Und dass das Ausblenden immer seinen Preis hat. Puhh… Saleem. Wir wissen es! Wir wissen es alle! Und wir lassen es geschehen…

    Und auch hat mir gefallen, wie Du erklärt hast, dass es vielleicht Verwirrung geben kann, wenn Du Dich jetzt so klar positionierst, weil es einfach AUSNAHMEN gibt, wo allein die zeitliche Dringlichkeit nichts anderes erlaubt, wenn man verantwortlich handeln will. Wow…es ist für mich so gut zu lesen, wie klar Du da bist. Missverständlicherweise kann man gerne glauben, dass „sein mit dem, was ist“ bedeuten könnte, dass man einfach nur geschehen lässt. Allen Strömungen Lauf lässt. Und nicht tut, was getan werden muss um Verantwortung zu übernehmen.

    Alles Liebe und bleib Du auch gesund!

  4. Istvan Stefan Hazay sagt:

    Es ist schwer etwas Kluges zu sagen. Die europaeischen PolitikerInnen haben in den
    letzten 70 Jahren bestimmt keine Pandemie / gro3e Epidemie erlebt. Man kann denen Vorwürfe machen, aber alle waren unvorbereitet. Die Bevölkerung auch. Und einerseits die Reihe von Improvisationen andererseits die Zahlen von den Virologen und MathematikerInnen haben mich nicht überzeugt. Und es gibt / gab zu viele negative Emotionen, viele hassen leider die Menschen über 65 und Mitgefühl und Solidaritaet sind laengst für viele Fremdwörter geworden. Und wir sind wirklich in einer Falle, in letzten Jahren habe ich nie erlebt, dass man jeden Tag im Radio / im Fernsehen / im Internet angesagt / gezeigt / publiziert wurde, wie viele Menschen an der Grippe in Deutschland erkrankt sind, wie viele Menschen z.B.: in der Schweiz an einem konkreten Tag im Autounfall gestorben sind und wie viele Kinder an Malaria / Ebola / Mumps jaehrlich / monatlich / taeglich sterben und in Südamerika / in Afrika / in Asien. Diese Zahlen würden uns auch heute noch schockieren und wenn wir sie letztes Jahr gelesen haetten, waeren wir bestimmt sowohl traurig als auch böse gewesen / geworden. Geschweige von den „für Europa typischen“ Krankheiten wie Krebs / Stroke / Herzinfarkt etc. Ich sage damit nicht, dass die Covid-19-Krankheit harmlos ist und man nicht aufpassen soll/sollte, aber die Panikmache macht einen nervös. Und man fragt sich: Super, wir haben ein gutes Gesundheitssystem, aber wie viele Betten wurden dort in den letzten Jahren weggespart, wie viele Krankenschwester / Krankenpfleger dort jahrelang ohne normale Gehaelter / Loehne gearbeitet haben und arbeiten. Fragen über Fragen. / Ich persönlich bin gerne zu Hause, aber wenn ich wegen der kommenden Wirtschafskrise meinen Job verlieren werde, werde ich nicht unbedingt wunschlos glücklich sein, wenn es proklamiert werden wird: Wir haben diese Krankheit besiegt. Wenn das Ganze bis Weihnachten in Europa zu Ende gehen wird und wir im Jahre 2021 keine neue Pandemie erleben werden, wird alles ab Ostern 2021 so weiterlaufen, wie es bis zum 13. Maerz hier (z.B.:) in Österreich gewesen ist. Da bin ich weder optimistisch noch mir unsicher.

  5. Stefan sagt:

    Lieber Saleem,
    Autoritätsthemen in deinen Gruppen? Zwar pilgere ich nicht in all deine Gruppen/Trainings und habe nur eine begrenzte Sicht. Kann mich jedoch einreihen ins Thema, dass es mich manchmal erwischen wollte, in Konkurrenz oder auch Solidarität zu gehen mit dir. Das ist unserem gleichen Jahrgang geschuldet. Deine durchgehend annehmende Haltung schätze ich immer wieder, die Konfrontation habe ich gelegentlich auch vermisst. Mir selbst blies diese Konfrontation auch schon ins Gesicht und ich brauche das! Andere sind da sicher auch anders und ich vertraue deiner Intuition. Ich glaube, besonders in deiner Ausbildungsgruppe „being with people“ braucht Autorität als Thema einen guten Platz, wenn es auftaucht: offenbarend und verletzlich. Besonders, wenn sich hier jemand an dir abarbeiten will, woran ich auch schmerzliche Erinnerung habe.
    Dir auch alles Liebe und bleib gesund!

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