In Herzensfeuer habe ich in einem wesentlichen Punkt komplett danebengelegen. Ich ging damals (das Buch erschien im Jahr 2006) davon aus, Widersprüche erfreuten sich immer größerer Beliebtheit:
„Der Begriff der Widersprüchlichkeit bekommt in den letzten Jahren einen wärmeren Klang. Ich begegne immer mehr Menschen, die von der Paradoxie des Lebens begeistert sind. Heilslehren jedweder Art, die vorgeben, das allein selig machende Rezept zum Erfolg, zum Glück oder zur Erleuchtung gefunden zu haben, verlieren an Glanz und an Anziehungskraft. …
Ich glaube, dass dieser Quantensprung in der Luft liegt. Ich kann seine Vibration fast körperlich spüren. Belege dafür finde ich sogar in Tageszeitungen und Zeitschriften, die jeder Esoterik unverdächtig sind. Wir befinden uns an der Schwelle, manches nicht mehr so eng zu sehen, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Leidenschaft für das, was uns wesentlich ist.“
Wie konnte ich bloß dermaßen daneben liegen? Ich wollte es wohl gerne glauben. Leider ist weitgehend das Gegenteil eingetreten: Der öffentliche Diskurs ist seither deutlich aggressiver geworden, in vielen Ländern sind Politiker an der Macht, für die es nur Schwarz/Weiß gibt, die berühmt-berüchtigte Devise „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, findet wieder mehr Zuspruch und dogmatisches bis totalitäres Denken breitet sich aus. Dazu die Journalistin Svenja Flaßpöhler in der taz: „Es gibt noch etwas, das mich gegenwärtig schwer beunruhigt: Nämlich die Unfähigkeit, Ambivalenz auszuhalten.“ (taz Futurezwei No. 9) Der zum Thema passende Buchtitel: „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“.
Was ist da los? Warum nimmt in der öffentlichen Debatte nicht die Gelassenheit zu, sondern der Hass? Offensichtlich habe ich arg unterschätzt, wie anspruchsvoll es ist, mit Ambivalenzen sinnvoll umzugehen bzw. sie überhaupt zu ertragen. Anscheinend sind viele Menschen heute so verunsichert, dass sie an jeder vermeintlichen Wahrheit – und sei sie auch noch so plump – festhalten wie an einem rettenden Strohhalm.
Die Sozialpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von kognitiver Dissonanz, einem unangenehmen Gefühlszustand, der durch die Unvereinbarkeit verschiedener innerpsychischer Vorgänge hervorgerufen wird. Eine solche Dissonanz kann z.B. entstehen, wenn
- wir von Monogamie mit sexueller Exklusivität überzeugt sind, uns aber von verschiedenen Menschen erotisch angezogen fühlen.
- wir unbedingt bedingungslos geliebt werden wollen, genau dadurch aber selbst dazu nicht in der Lage sind.
- wenn wir uns von Menschen aus fremden Kulturen verunsichert fühlen, uns aber für liberal und weltoffen halten.
- wenn wir unter der fortschreitenden Umweltzerstörung und Bedrohung durch die Klimakrise leiden, zugleich aber durch unseren westlichen Lebensstil – mehr oder weniger unvermeidlich – dazu beitragen.
Wenn wir solche Dissonanzen nicht aushalten, müssen wir sie ausschalten. Das ist ein sehr einfaches, aber folgenreiches psychologisches Prinzip. Vielleicht blenden wir das ambivalente Thema komplett aus oder wir entscheiden uns unbewusst für die eine Seite, um dann die andere als Teufelszeug zu bekämpfen. Es gibt viele weitere Abwehrmechanismen, mit denen unsere Psyche sich in solchen Fällen davor schützt, innerlich zu zerbrechen.
Wie kommt es zu diesen Dissonanzen und wie können wir lernen, sie auszuhalten?
Auf einer gedanklichen Ebene können wir uns klar machen, dass Ambivalenzen meist mit Bewertungen einher gehen. Bewertungen besitzen jedoch grundsätzlich nur relative, auf den jeweiligen Standpunkt bezogene Gültigkeit. In der berühmten Weisheitsgeschichte vom armen Bauern, seinem Sohn und seinem Pferd kommt die Bedingtheit unserer Werturteile wunderbar zum Ausdruck. „Alles ist für etwas gut und für etwas anderes schlecht“, sagte in ähnlichem Tenor gerne einer meiner Supervisoren, der Spruch wurde zu einem meiner Lieblingssätze. Aber trifft er wirklich auf ALLES zu? Auf Liebeskummer, auf Fußpilz, den Nationalsozialismus oder gar auf den eigenen Tod?
Mit manchen unserer Werte und den daraus resultierenden Bewertungen sind wir so sehr identifiziert (wir könnten auch sagen „davon überzeugt“), dass wir anderen Bewertungen jede Berechtigung absprechen. Migration ist dann plötzlich nur noch gut oder nur noch schlecht, wir können nicht mehr differenzieren. Aus Bewertungen werden dann Absolutheitsansprüche, wie die Autorin Vivian Dittmar sie nennt. Diese helfen dabei, innere Ambivalenzen abzuwehren, schaffen aber weitere Probleme, die wir womöglich mit immer weiteren Absolutheitsansprüchen beantworten müssen. Ein Teufelskreis, der zu oft zu Hass, Verzweiflung oder Resignation führt und nicht leicht zu durchbrechen ist.
Aber es ist möglich. Wir können diesem Kreislauf entkommen, indem wir lernen, unsere Gefühle von unseren Bewertungen zu unterscheiden und auch unangenehme Gefühle mit wohlwollender Präsenz fühlen, ohne uns von ihnen überfluten zu lassen. So können wir Ambivalenzen bewusst Raum geben. Wir können Unsicherheiten und Nichtwissen nicht nur tolerieren, sondern sie als Quellen für Kreativität schätzen lernen. Wir können den Sog einfacher „Lösungen“ anerkennen und ihm zugleich widerstehen, weil wir ihren Vermeidungs- und Suchtcharakter durchschauen. Wir können vom Entweder-Oder-Denken zum Sowohl-Als-Auch übergehen. Wir können mentale Ein/Aus-Schalter wie bei einem Mischpult durch stufenlose Regler ersetzen und kreativere Lösungen finden.
Wenn wir unsere Scheuklappen ablegen, können wir beispielsweise unserer Eifersucht Raum geben und sie fühlen, anstatt sofort die Beziehung abzubrechen. Wir können mit unserem Partner darüber sprechen, welche Begrenzungen wir ggfs. brauchen, um Eifersucht nicht nur aushalten, sondern daran zu wachsen. Wir können Liebe geben und empfangen, auch wenn sie nicht immer bedingungslos ist. Wir können verstehen, dass Zuwanderung nur dann auf humane Weise begrenzt werden kann, wenn die Ausbeutung der Herkunftsländer tatsächlich und wirksam beendet wir und wir solidarischere Wirtschaftsformen entwickeln. Wir können der eigenen Ohnmacht in Bezug auf die Klimakrise Raum geben und dennoch aktiv werden, um sie soweit noch möglich abzumildern.
Das sind alles keine leichten Übungen. Wie eingangs erwähnt, habe ich mich getäuscht in meiner Einschätzung, dass die gesellschaftliche Entwicklung unausweichlich ihren Weg in Richtung größerer Toleranz und Wertschätzung gehen werde. Doch nach wie vor sehe ich in der Fähigkeit, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten, eine Kernkompetenz für ein erfüllendes Leben und einen wertvollen Beitrag an die Gemeinschaft, in der wir leben.
Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, unsere Gefühle sind nicht gut oder schlecht, Menschen sind nicht nur Freunde oder Feinde und sogar wenn wir mit Haut und Haaren und bis zum Anschlag verliebt sind, es kommt der Tag, da wird er oder sie uns auch mal richtig nerven. Je mehr Spielraum wir für die bunte Vielfalt des Lebens haben, desto eher können wir für unsere Wünsche und Anliegen brennen und uns zugleich in andere Menschen einfühlen, die ganz anders unterwegs sind. Uns unserer Ambivalenzen und der Widersprüche des Lebens mit mehr Wohlwollen anzunehmen, ist aus meiner Sicht ein Beitrag für eine friedlichere Welt.
Vielleicht kann tatsächlich auch die sich im Zeitalter von Twitter und Facebook im Sinkflug befindliche Kulturtechnik der Lektüre eines guten Buches dazu beitragen, dass wir immer mal wieder die Perspektive wechseln. Zum Beispiel das Buch Herzensfeuer, in dem es sehr konkret und alltagsnah um die Frage geht, wie uns Widersprüche Tag für Tag zu innerer Heilung, größerem Gewahrsein und tieferer Liebesfähigkeit aufwecken können.
Danke für den Beitrag, der mir so gut gefällt, da Du vieles so schön auf den Punkt bringst, was ich selbst schmerzvoll lernen musste.
Nachdenklich macht mich Folgendes:
Woher weisst Du, dass Du Dich geirrt hast? Woher der anfangs einseitige Optimismus und jetzt der Pessimismus?
Willst Du mit der ursprünglichen oder der jetzigen These Recht behalten?
Insbesondere beim Thema Klimawandel nehme ich Deine Haltung als recht urteilend wahr. Oder ist das nur meine Wahrnehmung?
Hallo Markus, danke für deinen Kommentar.
Zu deiner Frage: Ich „weiß“ weder das eine, noch das andere. Es ist meine subjektive Wahrnehmung, die ich allerdings wohl mit vielen anderen teile.
Zum Klimawandel: Allerdings urteile ich darüber! Ich finde es überhaupt nicht gut, dass und wie die Menschheit diesen wunderbaren Planeten mehr und mehr in eine Wüste verwandelt.
Und auch dabei handelt es sich um meine ganz subjektive Wahrnehmung. Es mag sein, dass manche Lebewesen froh sein werden, wenn die Menschheit wieder von der Erde verschwindet.
Alles ist für etwas gut und für etwas anderes schlecht. Das heißt aber nicht, dass Wertungen schlecht sind, was zudem nur eine weitere Wertung wäre…
Wertungen sind Wertungen und nicht die Wahrheit.
Was, wenn beides gleichzeitig wahr wäre? Dieses Paradoxon kein Widerspruch sein müsste?
Ich glaube, dass wir als Menschheit insgesamt auf einem Wachstumsweg sind, und die Anzahl der Menschen, die echte Ambiguitätstoleranz haben, zunimmt. Gleichzeitig aber in unseren individuellen und gesellschaftlichen Systemen auch das Stresslevel steigt und dadurch die meisten zunehmend an ihre Grenzen kommen (konstantes Anti-Achtsamkeitstraining durch die Einführung von Smartphones; komplexe gesellschaftliche Probleme denen man sich schwer entziehen kann).
Manchmal hilft mir auch Spiral Dynamics, um klarer zu sehen.
Ja, liebe Anja, beides ist wohl war. In meinem Buch über Paradoxien habe ich aber genau das paradoxerweise nicht gesehen…
Ein Meta-Paradox! 😉
Vielen Dank.
Ich habe das Hörbuch Herzenslust gehört – schon mehrfach. Es begleitet mich immer wieder auf meinem tantrischen Weg – und jedes Mal höre ich wieder etwas neues darin. Nach dem Blog von heute wollte ich das Buch Herzensfeuer kaufen, es ist aber vergriffen. Wo kann ich es noch beziehen?
Lieber Beat, danke für die schöne Rückmeldung. Das Buch gibt es derzeit noch bei uns.
die einzige mir bekannte Online-Plattform für Gebrauchtbücher, die nicht zu einem Großkonzern gehört, ist booklooker.de
Danke Matthias!
Alles eins?
Klimawandelaktivisten und Klimawandelleugner. Atomkraftgegner und -befürworter. Kommunisten und Sozialisten. Veganer und Carnivore. Spirituelle und Nichtspirituelle. Friedenskämpfer und Kriegstreiber. Optimisten und Pessimisten….
Oder gleich in einer Person:
Dieselfahrende Feinstaubgegner. Indienfliegende Klimawandelvermeider. Urteilende Toleranzprediger. Vergewaltigende Zölibatsträger. Überschuldete Finanzberater, überversicherte Optimisten, SUVfahrende Biobauernhofeinkäufer. Rauchende Gesundheitsapostel, wütende Gleichmutvorsichhertäger, bedingungslose Liebe Einforderer, promiskuitive Monogame…
Die (kognitive) Dissonanz treibt offensichtlich viele spannende Blüten.
Ein Glück, dass es die Polaritäten gibt. Es wäre ja sonst echt langweilig 😉 Ich würde mich freuen, wenn ihr weitere spannende Beispiele hier reinschreibt.
Wie seht ihr das? Wollen wir die Polarität lieber abschaffen und ein totalitäres Regime des Pluspols herbeiführen…mit Glückszwang, absoluter Toleranz und ewiger bedingungsloser Liebe? Alles Böse wird gandenlos vernichtet. Alles Unschöne zerstört. Alle unperfekten Menschen auf den Mars verbannt. Orwell war ja schon 1984 nahe dran, oder?
Verbote verbieten, Freiheit erzwingen 😉
Es gibt einen schönen Rap zum Thema von Amewu: Das Universelle.
Hallo da, wir unterschätzen die Komplexität von persönlicher und kollektiver Entwicklung. Lieber Saleem, Du befindest Dich in bester Gesellschaft!
Nur wenn wir das zutiefst annehmend ohne unsere Freude am Leben und unsere Bereitschaft zu Geben einzubüßen, kann es mit etwas Glück und nicht unerheblicher Hingabe gelingen einen Übungsweg für sich und seine Lieben zu gehen. Mein Traum ist, das auch Schulbildung diese Wirklichkeit aufgreift. Naja, träumen ist erlaubt 😊
Lieber Saleem,
lange her, in irgendeinem der Trainings hörte ich dich sagen “ ich schenke der Welt meiner Irrtümer“. Wie genial ich das damals fand und war beeindruckt. Da macht einer „Fehler“ (die es ja nicht gibt wie wir wissen) – irrt sich – und verschenkt die Irrtümer auch noch! Machte es mir doch Mut, weiter „daneben“ zu sein, „schräg“ oder „stur“. So können andere das auch sehen. Eben ich selbst in meinem Lied… Ich kann mir vorstellen, wie du mit leisem Lächeln fast unsichtbaren Humor in deine Zeilen geschrieben hast. So kommt es bei mir an. Oder „irre“ ich mich?
Den ganzen Ernst in der Sache sehe ich auch und das tut mir weh, dass wir als Menschheit wohl unsere Zukunft nicht so achtsam bestimmen, wie wir Verantwortung dafür haben. In meiner unmittelbaren Nähe spüre ich wohl noch etwas Einfluss in meiner Verantwortung, den ich selbst auch nicht immer wahrnehme (z.B. mit meinem alten 6Zylinder freudig cruisen) doch im globalen die große Ohnmacht fühlt sich mir so hilflos und ohne Rettung an.
Dir ganz, ganz herzliche Grüße von
Stefan
Heute ging ich an einem Park entlang und auf einem kleinen Stück Wiese, lassen wir es 5 auf 5 Meter sein, glitzerte alle paar Zentimeter was Helles. Im leichten Wind war es ein Meer von Glitzerpunkten, einfach herrlich anzuschauen. Ich ging dann hin und schaute, woher es kommt. Es waren viele kleine Verpackungs-Folien, vermutlich von einem Open-Air in der Nähe übriggeblieben, transparente und alu-kaschierte Folien, nur wenige Zentimeter groß, geschätzt mehrere hundert Stück. Da erinnerte ich mich an diesen Blog.