Identität – brauchen wir die oder kann die weg?

Sexuelle Identität und  sexuelle Orientierung – das sind so Sachen … Labels wie LGBTQIA+ erinnern mich manchmal eher an die EU-Lebensmittel-Informationsverordnung (LMIV) als an lustvolles Zusammensein. Klare Kennzeichnung der Inhaltsstoffe, Nährwert, Mindesthaltbarkeitsdatum: wie praktisch! Aber was tun wir uns an, wenn wir uns als Menschen so einordnen?

Eigentlich wissen wir alle, dass wir uns im Laufe des Lebens verändern und mit uns unsere Sexualität. Und doch halten wir hartnäckig an Etiketten fest: „homo“- oder „hetero“-sexuell, „mono“ oder „poly“, „cis“ oder gar „non-binär“. Sie sind wie Aufkleber, die wir uns selbst verpassen wie einem Marmeladenglas.

Neulich bekam ich eine Rückmeldung zu meinem Buch Sex, Herz & Bindung. Jemand hatte es kurz aufgeschlagen, einen Satz gefunden – und sofort messerscharf geschlossen: „Der Autor propagiert ja Polyamorie! Not my cup of tea.“ Mal ganz abgesehen davon, dass ich in dem Buch überhaupt keine spezielle Identität oder Orientierung empfehle, sondern zu einer Entdeckungsreise zu sich selbst einlade, fand ich es bemerkenswert, wie schnell wir Menschen in der Lage sind, unsere Raster auszupacken, Erfahrungen in Schubladen zu verstauen und den Blick auf die Wirklichkeit zu verlieren. Das geschieht zunehmend auch im politischen Raum, mehr dazu ein anderes Mal.

Meine Skepsis gegenüber starren Identitäten begleitet mich schon lange – auch in meiner Arbeit in der Schule des Seins. Denn auch in der Tantraszene sind Etiketten durchaus verbreitet.
Wie lange mich das Thema schon umtreibt, das wurde mir klar, als ich einen alten Text ausgrub, den ich 1986 für den Männer-Kalender ’87 geschrieben habe: Ein Plädoyer für die Hingabe der sexuellen Identität.

Vielleicht bin ich manchmal etwas einseitig mit meinem kritischen Blick auf Identität. Umso spannender war es, in der kommenden Podcast-Folge von Fifty Ways to Ruin Your Sex Life mit Daniel darüber zu sprechen und zu erfahren, wie Identität für ihn nicht einengend ist, sondern auch Halt und Orientierung gibt.

Womit identifizierst du dich? Wozu brauchst du so etwas wie eine „Identität“ – oder auch nicht? Oder ist gar etwas dran, dass wir in der Tiefe unseres Seins NICHTS sind, ein leerer Raum? Ich freue mich über deine Perspektive auf diese Fragen.

Über Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge und lebt bei Freiburg im Breisgau. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Bisher erschienen sind "Herzenslust" (auch als Hörbuch), "Leben, Lieben und Nicht Wissen", "Herzensfeuer", "Lustvoll Mann sein" und "Mysterien des Lebens". Weitere Bücher sind in Vorbereitung, u.a. eine Romantrilogie.
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7 Antworten zu Identität – brauchen wir die oder kann die weg?

  1. Rainer sagt:

    Für mich ist Identität das, was ich gerade über mich denke und die Welt – und das verändert sich, sobald sich mein Zustand verändert. Nichts ist fixiert, alles im Fluss. Manchmal ist mein „Ich im Ich“ leer, manchmal voll – voll dynamisch eben.

  2. Diana sagt:

    Aus meiner Sicht braucht es eine Identität um in der Welt zu kreieren, die Frage lautet für mich, wie verstrickt bin ich damit.

  3. Birgit Althaler sagt:

    Lieber Saleem
    Eine spontane Rückmeldung zu deiner Frage nach der Bedeutung von Identität(sfestlegungen):
    Ich denke, die sind bei den meisten von uns kontextabhängig. Wir äussern uns zu etwas, was in unserem Leben umstritten, infrage gestellt wird oder was uns einengt oder uns umgekehrt Freiheit verspricht oder stolz macht. Wir definieren uns je nach Kontext über Beruf, biologisches Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Glauben/Ideologie, Körpermasse, Alter, Kraft, akademischen Titel, Einkommen, Mut, Engagement, Offenheit …
    Mir persönlich ist es in gewissen Situationen wichtig, mich als Frau, als Feministin zu definieren. Es ist aber nicht das oberste Merkmal, das ich immer heraushänge, sondern eine spezifische Antwort auf Aspekte unserer Gesellschaft, die ich in Bezug auf mein biologisches Geschlecht oder die Zuordnungen von weiblich, männlich etc. oder die Zumutungen einer patriarchalen Gesellschaft als einengend erlebe.
    In andren Situationen spüre ich überraschenderweise, dass tatsächlich irgendetwas in mir schwingt, wenn ich daran denke, dass ich eine „Tirolerin“ bin. Da ist die Lust auf Touren in den Bergen, die Freude an meinem Skifahrkönnen und der Energie, die ich in mir spüre, oder einer Portion Wildheit. Und gleichzeitig intellektuell die Abscheu gegenüber einem scheinheiligen, konservativen, in sexuellen Fragen sehr derben Tiroler Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, und gegenüber Nationalismus und Patriotismus im Allgemeinen. Es ist ja kein Verdienst, irgendwo geboren worden zu sein.
    Andre Zuschreibung: Im Vergleich zu vielen andren, die sagen, links und rechts habe heutzutage keine Bedeutung mehr, weiss ich für mich sehr genau, was ich damit meine, wenn ich mich als Linke bezeichne.
    Die Etiketten von lesbisch, hetero, bi, trans etc. empfinde ich oft als Einengung und schmerzhaft bzw. habe sie früher so empfunden, z.B. wenn ich in gewisse Kreise oder an gewisse Anlässe nicht reingelassen werde, weil Zweifel an meinem Richtig-geartet-Sein bestehen. Diese Zuschreibungen sind aber umgekehrt oft Eintrittstickets in Kreise von gleich oder ähnlich tickenden Personen, zu Peer Groups, Szenen-Wohnzimmern.
    In meiner politischen Arbeit haben wir uns mal mit dieser Identitätsfrage befasst und ein inklusives Konzept diskutiert, das nicht der Gruppe das Recht gibt, zu bestimmen, wer dazugehört und wer nicht, sondern dem/der Einzelnen, ob sie sich zugehörig fühlen will oder nicht. Das fand ich einen spannenden Ansatz und Grundsatz, auch wenn er vielleicht nicht auf jede Situation anwendbar ist.
    Trotzdem, in diesem Konzept hätte vielleicht auch jemand (wie ich), die nicht grundsätzlich gegen Corona-Massnahmen war, an einer Untergrundparty mit lieben Freund*innen teilnehmen können, die das Tragen von Masken als Verrat an ihren Freiheitsrechten empfinden. Vielleicht hätten wir uns gerade in dieser Krisenphase weniger abgrenzen und zerstreiten müssen und hätten mehr Verständnis dafür aufbringen können, aus welchem Gefühl (z.B. der Bedrohtheit) heraus sich wer für welche Haltung entschieden hat.
    Und noch ein Aspekt: Tatsächlich ärgerlich machen mich oft die Zuschreibungen von männlich und weiblich in den Tantrakreisen. Dann heisst es zwar jeweils, dass wir natürlich alle beides – männliche und weibliche Anteile – in uns haben. Dennoch gibt es hier einen Kurzschluss zwischen biologischem Geschlecht und Persönlichkeitsmerkmalen, die ich immer und immer wieder als einengend und klischeehaft erlebe. Warum muss ich sagen wir mal meine körperliche Stärke als „männlichen“ Anteil bezeichnen? Nein, es ist einfach meine körperliche Stärke.
    Herzliche Grüsse,
    Birgit

    • Danke für deine differenzierten Gedanken, liebe Birgit, die das Thema nochmal weiter auffächern.
      „Warum muss ich sagen wir mal meine körperliche Stärke als „männlichen“ Anteil bezeichnen? Nein, es ist einfach meine körperliche Stärke.“ Ganz genau so!👍

  4. Atma Pöschl sagt:

    Lieber Saleem,

    jetzt bin ich über Deinen Newsletter gestolpert.

    So sehr auch mir das Rumreiten auf political Correctness bzw. Äußerlichkeiten auf die Nerven geht (ich selber fühle mich von der Trans-Debatte ein wenig abgehängt, damit kann ich wenig anfangen): Es geht so gefühlt nicht nur um „lustvolles Zusammensein“. Es geht immer auch um Machtstrukturen. Wertschätzung durch Gesehen-Werden. Eine Stimme und Sprache haben (dürfen). Was Du als Mann im ersten Absatz schreibst, empfinde ich ein wenig problematisch nach dem Motto: „Mit vollen Hosen hat sich’s gut Stinken.“ 🙂

    Natürlich stimmt das, was Du schreibst. Pauschal kritisieren würde ich es nicht. Dennoch: Da fehlt was. Da ist ein blinder Fleck. Gerade wenn ich mich im Tantrakontext bewege, der leider immer noch vor Heterosexismus strotzt – was von vielen als aus der Zeit gefallen empfunden wird – braucht es neben therapeutischem auch politisches Bewusstsein. In der Differenz liegt die Macht der Komplettierung. Und „die Differenz, die sich komplettiert“, ist vermutlich umfassender als „1 (heterosexueller) Mann und 1 (heterosexuelle) Frau“.

    Ich habe das Gefühl, Du vermischt in den ersten beiden Absätzen Äpfel mit Birnen. Besser kann ich es nicht benennen: Es fühlt sich an, als würde über etwas drüberradiert. Im Zentrum sitzend, ohne Bewusstheit für bzw. eigenes Verkörpern des Randes.

    In letzter Zeit denke ich mehr als üblich über Machtstrukturen im Tantrakontext nach: Eine Bekannte macht (seit langem) eine Tantraausbildung bei den Demmers in Wien, die auf der Rückseite ihres Folders – an prominenter Stelle – ein Zitat von „Samuel Widmer“ haben, der mit seiner Kirschblütengemeinschaft gegen das Inzest-Tabu war/ist: Inklusive fettem Text auf deren Website. Warum so viele Menschen über sowas drüberlesen ist mir ein Rätsel: Ich kann es mir nur erklären, dass der eigene erfahrene Missbrauch blind macht. Meine Bekannte hat diesbezüglich einen blinden Fleck. Und viele andere offenbar auch.

    Es tut mir leid, ich will nicht Äpfel mit Birnen vermischen 🙂 Mir ist bewusst, ich tue das gerade. Worum es mir geht: Es ist mir ein großes Anliegen, dass Tantra in der öffentlichen Wahrnehmung kein Synonym ist für: Das Hirn beim Eingang abgeben. Machtmissbrauch. Heterosexismus. Sondern für therapeutisches Arbeiten mit politischem Bewusstsein.

    Du hast mich zum Nachdenken gebracht 😉

    Liebe Grüße aus Wien,
    Atma Pöschl

    • Liebe Atma,
      schön dass ich dich zum Nachdenken gebracht habe.
      Du schreibst „Ich habe das Gefühl, Du vermischt in den ersten beiden Absätzen Äpfel mit Birnen.“Mir ist nicht klar, was du hier mit Äpfeln und Birnen meinst.
      Mir ging es in diesem zugegeben etwas zugespitzten Beitrag darum, dass das selbstbewusste Labeling unserer sexuellen Präferenzen und Identitäten auch zum Bumerang werden kann, der uns selbst einengt.
      Es gab Zeiten, da war z.B. das Statement „ich bin schwul“ nicht zuletzt auch ein politisches Statement gegen Diskrimierung. Ich habe dies in meinen Zwanzigern selbst durchlebt und das war wichtig (siehe auch meinen letzten Beitrag). Inzwischen bin ich mir bei LGBTQIA+ nicht mehr so sicher. Der Regenbogen gefällt mir da als Symbol unserer Diversität schon besser.
      Dass der Tantraszene mehr politisches Bewusstsein gut täte, da stimme ich dir zu. Und auf die „tantrischen“ Klischees bezüglich Männer und Frauen könnten wir tatsächlich langsam verzichten.
      Liebe Grüße aus dem Breisgau
      Saleem

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