Anerkennen was existiert – Basis für Veränderung

Im Tantrakongress 2017 habe ich behauptet, dass alles, was existiert, seine Daseinsberechtigung bewiesen hat, dadurch dass es existiert. Spiritualität bedeutet in ihrem Wesen das Gewahrsein, dass alles mit allem verbunden ist. Wenn wir also dem, was existiert, die Daseinsberechtigung absprechen, trennen wir uns vom Sein.  Unser Einfluss darauf wird so nicht größer, sondern kleiner.
Mich überrascht nicht, dass diese These Fragen aufwirft, denn sie kann leicht mit einer rosaroten Esoteriksoße á la „Alles ist gut“ verwechselt werden.

Eine der Fragen möchte ich hier beantworten.

Frage

Hallo Saleem,
danke für dein Interview beim Tantrakongress. Ich würde gerne von dir wissen, ob es wirklich dein Weltbild ist, dass „alles“, also z.B. auch brutalste Gewalt / Krieg „berechtigt“ ist in dem Sinne, dass es dann lediglich eine persönliche Entscheidung / Vorliebe ist, ob man über etwas „jubelt“ oder lieber etwas anderes (z.B. friedliche Konfliktbewältigung) bevorzugt. In unserer Zeit der terroristischen Anschläge wäre dann also auch das etwas, was manche Menschen halt einfach besser („richtiger“) finden. Menschen vernichten ist Ansichtssache.

So wie du dich ausdrückst, ist alles was Menschen machen „richtig“, allein dadurch, dass es vorhanden ist. Dass „richtig“ und „falsch“ lediglich eine „berechtigte“ persönliche Ansichtssache ist und es im Zusammenleben deshalb nur darum geht, welche Sichtweisen gerade in einer Gesellschaft die Mehrheit haben bzw. mehr Macht haben, greift in meinen Augen viel zu kurz. Das andere Extrem sind für mich die reinen (religiösen und nicht religiösen) „Moralapostel“, die im Menschen nur einen Befehlsempfänger für die „richtigen“ Gesetze sehen. Das bringt unser Zusammenleben ebenfalls kein bisschen weiter – im Gegenteil.
Liebe Grüße
Edi

Antwort

Lieber Edi,

finde ich eine wichtige Frage, die du aufwirfst. Und eine heikle obendrein.

Ich sehe das so: Was immer sich bereits in unserem Leben manifestiert hat, hat seine „Daseinsberechtigung“ bewiesen, sonst wäre es nicht da.
Dass Menschen es für gerechtfertigt halten, Kriege zu führen etc. und entsprechend handeln, ist offensichtlich eine Tatsache, die wir nicht überwinden, indem wir behaupten, sie dürfe nicht dasein. Das wäre nämlich schlicht eine Verleugnung.
Daseinsberechtigung heißt nicht, dass etwas moralisch oder ethisch berechtigt oder richtig wäre, insofern wäre es vielleicht auch besser, von „Daseinsbefähigung“ zu sprechen.

Krieg, Ausbeutung, Missbrauch, Gewalt, all das gibt es auf diesem Planeten. Erst wenn wir das anerkennen, können wir ernsthaft darüber nachdenken und kreativ werden, wie wir darauf antworten können und wollen. Ansonsten sind wir nämlich von Verleugnung oder Rechthaberei absorbiert über Dinge, die passiert sind und nicht mehr zu ändern.

Wir können auf der Grundlage der Anerkennung von Tatsachen versuchen, zu verstehen, wie es dahin gekommen ist und wie es dazu kommen konnte. Nicht um zu behaupten, es hätte nicht dazu kommen dürfen, denn das bringt in seiner Rückwärtsgewandheit nichts für die Zukunft. Kurz: Wir können daraus lernen und entsprechend handeln, anstatt uns einfach im Recht zu fühlen. Wir sind die Guten? Das greift m.E. zu kurz, und gibt z.B. der AfD gerade ihren Auftrieb.

Nun kommt der heikelste Punkt. Womit willst du legitimieren, dass das, was du für richtig hälst, auch für andere Gültigkeit besitzt?  Hilter, Stalin, Mao, viele Päpste und weitere politische oder religiöse Führer dachten, sie würden die Menschheit mit ihren Ideen und Handlungen beglücken. Das Ergebnis kennen wir.

Ich halte es für weitaus friedensstiftender, bescheidener zu bleiben und für unsere Ideen und Werte zu werben, anstatt alle, die sie nicht teilen, ins Unrecht zu setzen. Das schließt nicht aus, bestimmte Freiheitsrechte zu verteidigen oder unser Möglichstes zu tun, um die Umwelt zu schützen und Konflikte friedlich zu bewältigen. Deswegen müssen wir aber nicht beanspruchen, im Besitz einer wie auch immer höher legitimierten Wahrheit zu sein. Denn genau das machen doch vor allem die größten Verbrecher der Menschheit auf diesem Planeten, oder nicht?

Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich menschliches Bewusstsein in Richtung Mitgefühl und Gewahrsein globaler Verbundenheit entwickelt, so wie z.B. Ken Wilber es behauptet.
Aber wenn das so ist, brauchen wir nicht die Gegner unserer Weltsicht zu bekämpfen, sondern können viel intelligenter fragen, was wir zur allgemeinen Bewusstseinsentwicklung beitragen können. Meine Position als richtig und die anderer als falsch zu definieren, gehört m.E. nicht dazu, denn es weckt vor allem eins: Widerstand.

Hilfreich finde ich auch den Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation nach Marschal Rosenberg, in der wir versuchen, auf der Ebene der Werte und Bedürfnisse gegenseitiges Verständnis zu wecken, anstatt auf die Ebene der Strategien zur Bedürfniserfüllung fixiert zu sein. Ich bin mit Rosenberg der Meinung, dass Gewalt ein sehr disfunktionaler Versuch der Bedürfniserfüllung ist, aber es gibt offensichtlich Menschen, die keine bessere Strategie kennengelernt haben. Sie werden sie nun aber auch nicht kennenlernen, wenn wir uns moralisch über sie erheben. Wenn wir sie wirklich verstehen wollen (und das ist ganz und gar nicht das Gleiche wie rechtfertigen!), können wir jedoch evtl. ergründen, welche Werte und Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten stehen und von dort aus aussichtsreichere Formen der Kommunikation finden.

Ich weiß, das klingt im globalen Maßstab hoffnungslos harmlos und unrealistisch. Doch mir scheint das immer noch der vielversprechendste Ansatz. Ob er den Planeten retten wird? Wer weiß das schon?

Eine ganz andere, aber auch sehr wichtige Ebene sind gewaltfördernde Strukturen zu erkennen und zu verändern wie z.B. unsere Wirtschaftsordnung. Aber auch da geht es erstmal darum, anzuerkennen, was ist, und dazu gehört vor allem die Strukturen zu verstehen. Von dort aus geht es weiter.

Ich hoffe, ich konnte mich verständlich machen
und grüße dich herzlich

Saleem

 

Über Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge und lebt bei Freiburg im Breisgau. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Bisher erschienen sind "Herzenslust" (auch als Hörbuch), "Leben, Lieben und Nicht Wissen", "Herzensfeuer", "Lustvoll Mann sein" und "Mysterien des Lebens". Weitere Bücher sind in Vorbereitung, u.a. eine Romantrilogie.
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6 Antworten zu Anerkennen was existiert – Basis für Veränderung

  1. Edi Erhart sagt:

    Lieber Saleem,
    danke für deine Antwort. Das, was du schreibst ist genau die Weise, wie in meinen Augen die Gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg falsch verstanden wird- wobei er zu diesem Missverstehen selbst viel beigetragen hat bzw. nach meiner Einschätzung selbst zu wenig Klarheit hatte. Er stellte es immer wieder so dar, dass das Einteilen in „richtig“ und „falsch“ das Problem wäre. Ich sehe das Problem nicht in dieser Einteilung – sie ist auch etwas, das wir alle ständig tun, ob wir wollen oder nicht – ich sehe das Problem „lediglich“ im Abwerten – also darin, dass wir andere Menschen abwerten, wenn sie sich aus unserer Sicht falsch verhalten. Das Problem mit den „größten Verbrechern der Menschheit“ ist zwar einerseits, dass sie ihre Wahrheit für absolut unumstößlich halten, das letztlich aber viel größere Problem ist, dass sie alle anderen, die nicht dieser Wahrheit anhängen, abwerten, aufs Schärfste verurteilen, als Menschen zweiter oder dritter Klasse ansehen.
    Mir wurde in den letzten Jahren immer klarer, dass das Problem auf unserem Planeten das Hassen ist und die entsprechende hassende Gewalt, die nicht nur etwas beschützen, sondern Gegner leiden sehen und zerstören möchte. Wenn jeder Mensch für seine Überzeugungen mit liebender Gewalt (wenn überhaupt Gewalt) eintreten würde, also mit einer „Gewalt“, die den „Gegner“ wertschätzt, weil jeder Mensch wertvoll und in seinem innersten Kern „gut“ ist, dann hätten wir ganz andere „Ergebnisse“, als durch die Hilters, Stalins, Maos, viele Päpste, die du nennst.
    Ich habe gemerkt, dass ich sehr wohl das legitimieren möchte, was ich für richtig halte, in dem Sinn, dass es auch für andere Gültigkeit besitzt. Die Haupt-„Wahrheit“, die ich für mich gefunden habe, ist, dass die Wünsche, die wir wirklich haben, die also nicht lediglich „Ersatzwünsche“ sind, immer und immer Wünsche sind, die vollkommen gewaltfrei sind. Ich halte es also tatsächlich für legitim, dass ich fest davon überzeugt bin, dass dies auch bei allen anderen Menschen so ist. Ich möchte also auch „die Menschheit mit meinen Ideen beglücken“. Der Unterschied zu den oben genannten ist allerdings, dass zu diesen Ideen ja Gewaltlosigkeit – genauer gesagt Abwertende-Gewalt-Freiheit – gehört, und somit diese Ideen natürlich in keinster Weise mit Überheblichkeit, Zerstörungswut und bloßem Zwang durchgesetzt werden können und durchgesetzt werden möchten.
    Was Widerstand bei anderen weckt, ist unsere oft sehr dezent gehaltende oder uns sogar selbst nicht bewusste Abwertung der anderen – das ist etwas, was kaum jemand ertragen kann – und nicht die bloße Tatsache, dass wir von der Allgemeingültigkeit von bestimmten „Glaubens“-Sätzen überzeugt sind. Davon bin ich jetzt auch wieder ziemlich überzeugt. Eine kleine Einschränkung muss ich allerdings noch machen: Wenn jemand Wahrheiten wirklich für „absolut“ hält, geht es seinen Mitmenschen immer schlecht damit, egal welche Wahrheit es wäre. Denn es sind eben alles Glaubenssätze. Ich schränke also ein, dass ich es doch nicht für absolut vollkommen ausgeschlossen halte, dass z.B. hassende Gewalt doch der richtigere Weg wäre, zur „Weiterentwicklung“ der Menschheit beizutragen, dass also z.B. diese Attentatsterroristen doch recht haben. Ich halte es allerdings für sehr sehr unwahrscheinlich – deshalb möchte ich mich voll und ganz für meine Überzeugung einsetzen.
    Ich schränke das deshalb ein, weil vollkommene Absolutheit Stillstand in unserer menschlichen Entwicklungsfähigkeit bedeuten würde. „Absolute Wahrheiten“ unterdrücken eines unserer grundlegendsten menschlichen Bestreben, uns selbst und die Welt immer besser und tiefer zu verstehen. Nach meiner Überzeugung wird dieses Bestreben niemals aufhören (und muss es auch nicht), weil es niemals einen menschlichen Verstand gegeben hat und geben wird, der die Geheimnisse des Universums tatsächlich erfassen kann. Als Menschen können wir aber ohne Überzeugungen und Orientierungen nicht leben, auch dann, wenn sie nie Sicherheiten, sondern immer nur „Annahmen“ bleiben werden.
    Eine scheinbare „Neutralität“ gegenüber allen möglichen Einstellungen von Menschen braucht es meiner Überzeugung nach nicht. Es braucht „nur“ das Anerkennen, dass jede menschliche Einstellung eine wichtige Bedeutung hat, also in diesem Sinn seine „Daseinsberechtigung“ hat – selbst solche, die wir ganz entsetzlich finden.
    Ich hoffe, dass auch ich mich verständlich machen konnte.
    Herzliche Grüße,
    Edi

  2. Lieber Edi,
    so weit liegen wir anscheinend nicht auseinander. Allerdings beinhaltet richtig und falsch aus meiner Sicht eine Abwertung des Falschen. Was sollte sonst „falsch“ bedeuten?
    Das muss nicht unbedingt eine emotionale Komponente haben, vielleicht meintest du das mit Abwertung.
    Und um das klar zu machen, ich werte durchaus, bin überhaupt nicht neutral. Mir ist nur bewusst, dass dies MEINE Werte sind und sie so gesehen nur relativ gültig. Das Problem sind m. E. nach nicht unsere (Auf- und Ab-) Wertungen als solche, sondern der Absolutheitsanspruch, den wir daran knüpfen.
    Dazu empfehle ich von Vivian Dittmar „Gefühle und Emotionen“. Sie erläutert das sehr schön, in welche Falle uns Absolutsheitsansprüche führen.
    Herzlichen Gruß Saleem

  3. Edi Erhart sagt:

    Lieber Saleem,
    uns geht es beiden um das „Anerkennen, was bereits existiert“, da liegen wir nicht weit auseinander.
    Uneinig sind wir uns darin, dass du sagst, dass für dich deine Werte nicht allgemeingültig sind. Das ist für mich ein Satz, der wie überhaupt keinen Sinn macht. Ich merke, wie schwierig Kommunikation allein schon dadurch wird, dass wir offensichtlich Begriffe unterschiedlich belegen. „Werte“ sind für mich eben genau diejenigen meiner Wünsche, die ich für allgemeingültig halte. Wenn ich Wünsche von mir nur als persönliche Wünsche ansehe, handelt es sich nicht um „Werte“, sondern eben um persönliche Vorlieben (Wünsche), die uns natürlich auch extrem wichtig sein können.
    Für mich gehört es ganz grundlegend zum Menschsein, dass es für uns zum Einen rein persönliche Wünsche gibt, die uns wichtig sind, und dass es für uns darüber hinaus aber auch sehr wichtig ist, zu erforschen, was wohl „die ‚wahre‘ Natur des Menschen“ ist bzw. was wohl „‚gut‘ und nicht ‚gut‘ für uns Menschen“ ist – was also allgemeingültig für alle oder zumindest die allermeisten Menschen sein könnte.
    Wenn Vivian Dittmar möchte, dass wir nichts allgemeingültig für falsch halten (was sie Absolutheitsansprüche nennt) und das „loslassen“ sollen, dann plädiert sie in meinen Augen damit dafür, einen sehr wichtigen Teil unseres Menschseins über Bord zu werfen. Sie unterstellt auch noch, dass wir dann, wenn wir etwas allgemeingültig für falsch halten, zugleich unfähig werden, diese Überzeugung ggf. auch wieder in Frage zu stellen – was natürlich kein zwingender Zusammenhang ist.
    Unzählige Religionen und Weisheitslehren gibt es u.A. wegen unserem tiefen Wunsch, uns dem anzunähern, was allgemein gültig sein könnte. Das ist nichts zum „Loslassen“, sondern hat einen tiefen Sinn. Wir möchten Orientierung darin bekommen, wie wir es erreichen können, glücklicher zu werden, zu mehr Frieden in uns zu finden und unsere Welt so zu gestalten, dass alle Menschen möglichst viel Erfüllung darin erleben können. Dafür müssen wir eben das finden, was uns Menschen am besten entspricht (= Werte), um auf dieser Grundlage wiederum Regeln zu finden, die für alle gültig sein können, damit es allen möglichst gut gehen kann.
    Wenn „Werte“ nur persönliche Wünsche wären, gäbe es keinerlei Legitimation dafür, allgemeingültige Gesetze zu erlassen (die in einer offenen Gesellschaft bei „Weiterentwicklung“ auch wieder verändert werden können). In einer solchen Welt würde ich nicht leben wollen. Es gibt viele Dinge, die ich mir nicht nur für mich selbst wünsche, sondern die ich mir für alle wünsche.
    Deshalb ist es mir so ein Anliegen zu erkennen, dass wir das für uns (zur Zeit so gesehene) Allgemeingültige nicht mit einer andere Menschen erniedrigenden Gewalt durchsetzen dürfen, wenn wir Frieden in uns und damit auch Frieden mit anderen finden möchten. Nicht ob wir etwas für allgemeingültig halten ist ein Problem (wenn wir darin nicht vollkommen erstarren), sondern ob wir es auf erniedrigende Weise anderen aufzwingen wollen. Für mich wird es uns Menschen gerechter, wenn wir den „Kampf der Werte (Kulturen)“ auf eine respektvolle, bei allen Differenzen wertschätzende Weise miteinander führen, statt diesem Konflikt auszuweichen und ihn gar nicht zu führen, weil es angeblich nur „persönliche Ebenen“ gibt.
    Wir können nur dann Wut fühlen, wenn wir denken dass etwas „nicht sein sollte“, dass also etwas „eigentlich nicht existieren darf“, „nicht geben dürfte“. Das ist eine der zentralsten Erkenntnisse, die Marshall Rosenberg eingebracht hat. Leider hat er dann auch den Fehler gemacht, „etwas ist falsch“ mit „etwas sollte nicht sein“ gleichzusetzen. Das ist einfach zu ungenau. Wir werden nicht wütend, weil wir denken, dass etwas falsch ist, sondern erst dann, wenn wir dazu noch denken, dass es nicht sein sollte. Das geschieht natürlich meistens so schnell und unbewusst, dass wir oft nur wahrnehmen, dass wir „falsch“ denken. Wir können aber durchaus „falsch“ auch ganz neutral denken (z.B. wenn jemand meint, 5 + 3 = 7), in einem rein sachlichen Sinn von ja – nein, trifft zu – trifft nicht zu. Es ist eben – eine zunächst neutrale – Bestimmung unserer Position. Mit Gefühlen verbunden wird sie erst durch das, was wir dazu hin noch denken – und da gibt es noch weitere Optionen als nur Wut.
    Unser Denken, dass etwas nicht sein sollte, tritt also nicht erst dann auf, wenn wir etwas für absolut falsch halten, sondern bei allem, wo wir wütend werden. Vivian Dittmar meint wie so viele Menschen, dass wir Wut brauchen, um uns unserer Position klar zu werden und uns für unsere Wünsche einzusetzen. Um uns wirklich klar zu werden brauchen wir aber die Interpretation „richtig“ – wir müssen also sofort von dem, was wir für „falsch“ halten, zu dem wechseln, was wir für „richtig“ halten. Denn nur in dem, was wir möchten, können wir unsere Wünsche wirklich finden – nicht in dem, was wir nicht möchten. Und dann können wir dieses „richtig“ mit Gefühlen verbinden, indem wir denken „es ist so schön …“. Diese Gefühle sind dann Freude! Auch das kann alles sehr schnell geschehen. So kann unsere Interpretation, dass etwas falsch ist, mit dem hinzu gesetzten Gedanken „es ist so schön …“ sofort Freude in uns auslösen – und wir können mit Freude, statt mit Wut, uns kraftvoll für unsere Wünsche einsetzen. Dabei wird es uns nicht nur selbst besser gehen, wir werden mit unseren Wünschen bei unseren Mitmenschen auch viel besser ankommen.
    Einer meiner Lieblingsaussagen von Marshall ist, dass Wut ein nur sehr oberflächlicher Ausdruck von dem ist, was eigentlich in uns vorgeht. Leider beschreibt er nicht genau, was denn das für Gefühle sind, die wir bei einem tiefgehenden Ausdruck fühlen. Was ich gefunden habe ist, dass es Freude ist, dass in der Tiefe immer Freude ist – allerdings ist es nicht nur jubelnde Freude, sondern es kann auch eine Freude sein, die sehr weh tut.
    Dass etwas, das weh tut, auch Freude sein kann, ist für viele Menschen nicht so leicht greifbar. Aber genau dahin führt nach meiner Erfahrung der Weg zu einem tieferen inneren Frieden, zu einer tiefen inneren Spiritualität. Die Menschheit lebt leider mehr auf der oberflächlichen Ebene von Wut, Angst, Schuld, Scham und oberflächlichem Spaß als auf der Ebene einer tief gefühlten Herzensfreude. Das ist nach meiner Einschätzung unser Grunddilemma.
    Herzliche Grüße
    Edi

    • Lieber Edi, du schreibst: „Werte“ sind für mich eben genau diejenigen meiner Wünsche, die ich für allgemeingültig halte.“
      Eben, du HÄLTST SIE für allgemeingültig, aber das müsstest du nicht so schreiben, wenn du wüsstest oder dir sicher wärest, dass sie allgemeingültg SIND. Mir geht es um diese Bescheidenheit, die du ja selbst anwendest, zumindest im Kontakt zu mir.
      Viele meiner Werte hätte ich gerne als allgemeingültig anerkannt, wie z.B. Gerechtigkeit, Frieden, Gewahrsein unserer Verbundheit. Aber Fakt ist, ich kann nur durch mein Sein und Handeln dafür werben. Wenn ich versuche, die Anwendung und Durchsetzung dieser Werte zu erzwingen, habe ich sie schon verraten. Was aber in der Widersprüchlickeit unserer Existenz durchaus vorkommen kann, denn wir leben nicht im Wertehimmel, sondern auf der Erde.
      Oder anders gesagt: alles ist für ETWAS gut und für ETWAS ANDERES schlecht. Es kommt immer auf die Perspektive an.
      Lg Saleem

  4. Stefan sagt:

    Ist es nicht eine zivilisatorische Errungenschaft das die Menschheit Rechte formuliert hat die für alle gelten und die zumindest theoretisch alle einfordern können? Unser internationale und nationales Rechtssystem stellt sich ja bewußt über die eigenen Wahrnehmung- und Beurteilungsfelder. Ich kann von meiner spirituellen Grundhaltung die Dinge gerade so annehmen wie sie sind. Das ist dann letztlich meine persönliche (Gesinnungs-)Ethik. Verantwortungsethik kämpft für die Rechte derer denen die Grundrechte oder die Menschlichkeit verwehrt werden. Das kann ich tun wenn meine Grundrechte eingeschränkt werden oder wenn die Schwachen der Gesellschaft nicht zu ihrem Recht kommen.
    liebe Grüsse Stefan

    • „Ist es nicht eine zivilisatorische Errungenschaft das die Menschheit Rechte formuliert hat…“
      Ja, das würde ich auch als Errungenschaft sehen. Aber gleichwohl handelt es sich um eine intersubjektive Übereinkunft und keine objektive Tatsache. Die müsste dann nämlich gar nicht erst formuliert werden. Und leider handeln längst nicht alle nach dieser Übereinkunft, noch nicht einmal jene, die sie anerkennen. Da ist noch viel Einsatz und Verständigung nötig. Lg Saleem

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