Sexualität als Einladung, sich selbst tiefer kennenzulernen
Es gibt Menschen, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit erotisch wirken. Nicht wegen bestimmter Körperformen, nicht wegen irgendwelcher göttlichen Techniken, sondern weil sie in ihrem Körper wohnen wie in einem vertrauten Haus. Jede Stufe knarzt auf ihre Weise, jede Tür hat ihr eigenes Gewicht, und man kennt die Stellen, an denen die Sonne den Boden wärmt.
Erotische Kompetenz – Sex Skills, wenn man es nüchtern sagen will – beginnt genau dort: in der Fähigkeit, den eigenen Körper zu bewohnen. Nicht als Maschine, die funktionieren soll, sondern als ein lebendiges Wesen mit Atem, Gefühlen, Geschichten und Möglichkeiten.
Und erst dann, wenn wir in diesem Haus zuhause sind, öffnen sich Räume für Begegnung, Spiel und tiefe, körperliche Freiheit.

1. Zuhause im Körper
Viele Menschen erleben Sexualität nur an bestimmten Orten: zwischen den Beinen, an der Brust, vielleicht am Hals. Der Rest des Körpers ist Beifang. Dabei ist die erotische Intelligenz des Körpers viel größer – wenn wir ihn wieder ganz in Besitz nehmen.
Eine überraschend simple Übung besteht aus zwei Fragen:
- Wo fühle ich gerade etwas?
- Und wie könnte ich dort ein wenig mehr Raum machen?
Der Atem ist dafür das unscheinbare Universalwerkzeug. Ein Atemzug in den Bauch kann ein Becken durchlässiger machen. Ein Seufzer befreit die Brust. Ein Summen löst Blockaden im Hals. Der Körper nimmt diese Hinweise auf, als hätte er nur darauf gewartet, dass endlich jemand zuhört.
Und dann passiert etwas Interessantes: Lust beginnt nicht mehr „irgendwo“, sie wandert, verschiebt sich, verzweigt sich. Das Nervensystem lernt, Lust nicht nur zu konsumieren, sondern zu gestalten.
2. Gedanken, Gefühle, Trigger – die inneren Landschaften
Sexualität zeigt uns nicht nur die schönsten Seiten des Lebens, sondern oft auch die verwirrenden. Gedanken schweifen ab, Emotionen mischen sich ein, alte Muster melden sich ohne Einladung.
Die zentrale Fähigkeit hier: nicht hineingezogen werden.
Nicht alles glauben, was der Kopf gerade behauptet:
- „Mach schneller.“
- „Mach langsamer.“
- „Bin ich gut genug?“
- „Ist das zu viel?“
- „Ist das zu wenig?“
Erotische Wachheit bedeutet nicht, gedankenfrei zu sein – sondern frei, trotz der Gedanken zu wählen.
Scham, Ekel, Unsicherheit – das sind keine Fehler im System, sondern Schwellen. Manchmal werden sie zu Grenzen, manchmal lassen sie sich mit Neugier in erotische Energie verwandeln. Wer das unterscheiden kann, erweitert seinen Handlungsspielraum enorm.

3. Erregung steuern – ohne Kontrolle zu verlieren
Im Kern ist Erregung die Sprache des Nervensystems.
- Sympathisch: fokussiert, heiß, vorwärts.
- Parasympathisch: weit, weich, empfänglich.
- Sex funktioniert am besten, wenn beide Strömungen miteinander tanzen dürfen.
- Erregt und entspannt zugleich zu sein – das ist eine Art inneres Paradox.
- Ein bisschen wie eine Katze, die gleichzeitig schläfrig und bereit zum Sprung wirkt.
Wer das beherrscht, kann auch auf hohem Lustniveau loslassen, innehalten, atmen, den Orgasmus hinausschieben – oder ihn unerwartet geschehen lassen. Nicht, weil man „cool“ ist, sondern weil man sich selbst bewohnt.
4. Der andere Körper – Kontakt und Spiel
Viele Menschen verlieren sexuelle Leichtigkeit im Moment, in dem ein anderer Körper ins Spiel kommt. Plötzlich gibt es Erwartungen, Hoffnungen, Projektionen. Und Vorsicht: Nirgends sind Manipulationen so gut getarnt wie in erotischen Angeboten.
Die Kunst besteht nicht darin, immer im Flow zu bleiben – sondern den Flow bewusst stören und wieder aufnehmen zu können.
- Eine kleine Pause.
- Ein Blick.
- Eine Frage: „Bist du noch da?“
- Oder: „Ich brauche kurz langsamer.“
So entsteht etwas, das Tiefe hat: ein gemeinsames Nervensystem.
Kommunikation ist hier kein Stimmungskiller, sondern ein Navigationsinstrument. Manchmal ist ein einfaches „Ich werde gerade weicher“ erotischer als ein Dutzend routinierter Bewegungen.

5. Grenzen, Mut und Überraschung
Erotik ist ein Spiel mit Polaritäten – schnell/langsam, fest/weich, kontrolliert/hingegeben. Aber dafür braucht es Grenzen. Gute Grenzen sind nicht Mauern, sie sind Membranen. Sie lassen durch, was gut tut, und halten zurück, was zu viel wäre. Wer Grenzen setzen kann, kann sie auch öffnen. Und umgekehrt.
Erotik braucht außerdem Mut. Mut zur Irritation, Mut zur Verletzlichkeit, Mut zu kleinen Risiken. Nicht zu großen – große Risiken führen selten zu guter Sexualität, sondern meistens in Therapie. Aber die kleinen Risiken, die leichten Schwellen … die machen lebendig.
Und dann kommt noch etwas: die Fähigkeit, sich selbst zu überraschen.
- Ein unerwarteter Atemzug.
- Eine neue Bewegung.
- Ein Laut, der so nicht geplant war.
- Der Körper liebt Überraschungen – vor allem die kleinen.
6. Präsenz – das unspektakuläre Geheimnis
Am Ende landet alles bei einem unscheinbaren Wort: Präsenz.
- Nicht die spirituell überhöhte Version davon, sondern die bodenständige:
- Ich bin hier. Ich spüre. Ich nehme wahr. Ich spiele mit dem, was jetzt ist.
- Mal fokussiert wie ein Laser, mal weit wie der Horizont.
- Präsenz ist keine Technik – sie ist eine Haltung.
- Und sie ist der Stoff, aus dem echte Erotik gemacht ist.

7. Erotischer Kontakt ist lernbar
Die meisten Menschen glauben, Sexualität sei entweder da oder nicht. Ein Talent, ein Geschenk, ein Zufall. Aber in Wirklichkeit ist sie ein Handwerk. Ein körperliches, ein emotionales, ein zwischenmenschliches.
Erotische Freiheit entsteht dort, wo wir:
- den eigenen Körper bewohnen,
- unsere inneren Zustände halten können,
- Kontakt gestalten statt erleiden,
- und uns erlauben, uns selbst zu überraschen.
Wer so lebt, muss nicht perfekt sein.
Er oder sie muss nur bereit sein, präsent zu sein.
Und das reicht – erstaunlicherweise – sehr weit.
Was kennst du schon, auf was bist du neugierig?
Vielleicht hat dich beim Lesen etwas berührt, irritiert, inspiriert oder nachdenklich gemacht? Was davon kennst du, an was fühlst du dich erinnert? Was willst du näher erforschen?
Wenn du Lust hast, teile gern deine spontane Reaktion – ein Satz, ein Gedanke, ein Fragezeichen. Und nimm dir gerne die Zeit, einzelne Aspekte auszuprobieren, spielerisch, ohne Ziel.
Wenn du magst, erzähl mir gern, welche Erfahrungen du damit machst. Ich freue mich, von dir zu hören, per E-Mail oder gleich hier als Kommentar.
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