Endlich mal ein Buch über heilige Sexualität, das so gar nicht heilig rüberkommt. Die Autorin Vivian Dittmar ist sich der Gefahr sehr wohl bewusst, dass sie mit einem Buch über die Verbindung von Sexualität und Spiritualität neue Bilder und Normen in die Welt setzen könnte, die den Leser zwar zunächst beeindrucken, ihn dann aber mit einer neuen Konditionierung zurücklassen, was einer wirklich ganzheitlichen sexuellen Erfahrung dann eher im Wege steht als ihr dient. Sie tut was sie kann, um dieser Gefahr entgegen zu wirken. Danke dafür.
Vier Merkmale charakterisieren nach Ansicht der Autorin heilige Sexualität: Einzigartigkeit, Verbundenheit, Ganzheit und Heilung. Auch wenn sie im letzten Teil des Buches konkrete Gestaltungsmöglichkeiten einer heiligen Sexualität skizziert, die vor allem durch die „Werkzeuge“ Atem, Bewusstsein und Absicht unterstützt werden, bleibt sie wohltuend nah und anschlussfähig an das alltägliche Erleben aller Facetten unserer Sexualität. Es geht ihr nicht darum, abgefahrene sexuelle Erlebnisse zu generieren, sondern durch bewusste Präsenz im Körper, in den Gefühlen und im Kontakt mit einem Partner innerlich zu wachsen, zu reifen und zu heilen. Und dann darf man auch mal auf den Wellen sexueller Energie surfen …
Auch das Thema, in welchem Beziehungskontext wir unsere Sexualität erleben, bekommt wohltuende Beachtung. Obwohl die Autorin aus ihrer Präferenz für Zweisamkeit kaum ein Geheimnis macht, so widersteht sie doch jeder Art von Dogmatik auf diesem heiklen Feld, sondern ermutigt dazu, die eigenen Beweggründe für das jeweils favorisierte Beziehungsmodell unvoreingenommen zu ergründen. Monogamie wie Polyamorie können sowohl Chance für heiligen Sex als auch Vermeidung oder gar Gefängnis sein, es kommt ganz darauf an …
Erstaunlich große Aufmerksamkeit widmet sie dem Thema Schattenseiten und Abgründe, sozusagen der vermeintlich unheiligen Unterwelt der Sexualität. Dabei kommt sie u.a. zu dem wohl viele überraschenden Ergebnis (und führt auch entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen ins Feld), dass das bewusste und einvernehmliche Experimentieren mit Dominanz und Unterwerfung, mit Schmerz, Grenzerfahrung und sich zum Objekt machen (bekannt unter dem Label BDSM) oft mehr mit einer respektvollen Sexualität auf Augenhöhe zu tun hat, als all das, was sich für gewöhnlich in unseren Betten abspielt. Obwohl BDSM nicht ihren eigenen Vorlieben entspricht, holt sie diese Praxis mutig aus der Schmuddelecke der Vorverurteilung, die oft aus Unkenntnis und aufgrund von Projektionen eigener Schattenseiten auf BDSM geschieht. Es geht der Autorin darum, keinen Aspekt unserer Sexualität zu verteufeln, auch nicht die von ihr heftig kritisierte und problematisierte Pornografie, sondern jeden Aspekt zu nutzen, um bewusster, integrierter und vollständiger im Sex präsent sein zu können. Nur wenn wir mit allem sein können, was in einer sexuellen Erfahrung auftaucht, kann diese zu einer heiligen Erfahrung werden. Dem möchte ich gerne aus ganzem Herzen zustimmen.
Was mich weniger überzeugt ist ihre Definition von Sex als einem im wesentlichen animalischen „Trieb„, und noch weniger überzeugt mich ihre Definition von Eros als die Verbindung dieses Triebes mit der Kraft der Liebe, wodurch Sex erst wirklich erfüllend werde. Eine solche Landkarte stiftet meiner Ansicht nach mehr Verwirrung als dass sie etwas klärt. Erotik und Sexualität sind in ihrer eigenen Natur polar angelegt, sie pulsieren zwischen ihrem „männlichen“ und ihrem „weiblichen“ Pol. Stattdessen Sex und Herz als die grundlegende Polarität zu begreifen, die durch Eros verbunden werden müsse, verlagert das polare Spiel innerhalb des sexuellen Terrains in eine Dynamik zwischen Sex und Herz. Dort aber wird sie allzu oft eben nicht erfüllend, sondern verletzend, weil Sex und Herz keine Polarität darstellen, sondern lediglich verschiedene Ebenen unserer Erfahrung mit jeweils eigenen Qualitäten. Diese können sich miteinander verbinden (was wunderschön sein kann), müssen dies aber nicht. Ein Vergleich: auch Mensch und Tier bilden keine Polarität, sondern stellen verschiedene Entwicklungsstufen des Lebens dar. Sie polar, also gegensätzlich aufeinander zu beziehen, stiftet Verwirrung und führt nicht unbedingt zu einer gelungenen Symbiose (Zusammenleben) von Mensch und Tier.
Auch die Einstufung von Verliebtheit und Eifersucht als biologische Programmierungen halte ich für irreführend, denn in beiden Phänomenen kommt weit mehr zum Ausdruck als pure Biologie: beispielsweise auch persönliche Prägungen und Bindungsmuster aus der Kindheit. Die Biologie spielt in jeder Facette unseres Erlebens, also auch in der Sexualität und in der Liebe eine prominente Rolle, jede Erfahrung kann inzwischen auch mit bestimmten Hirnarealen und Botenstoffen (Hormonen) in Korrelation gebracht werden. Es macht keinen Sinn, dies in besonderer Weise für Verliebtheit und Eifersucht zu proklamieren, denn diese These steht dann einer vorbehaltslosen Erforschung dieser komplexen Phänomene im Weg.
Man muss nicht immer ihrer Meinung sein und das ist sicher auch nicht der Anspruch der Autorin. Absolutheitsansprüche hat sie in deren wenig heilsamer Wirkung längst durchschaut. Mit ihrem engagierten Zugang zum Thema und indem sie immer auch ihren persönlichen Blickwinkel transparent werden lässt, lädt sie ihre Leser dazu ein, ihr nichts nachzubeten, sondern selbst auf Entdeckungsreise zu gehen, sodass aus Sexualität ein undogmatisches, zutiefst heilsames, erfüllendes und bewusstseinserweiterndes intimes Gebet werden kann. Eine solche unprätentiöse Grundhaltung könnte gerne zu einer ansteckenden Gesundheit unter Buchautoren werden.
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