Barack Obama – ein ganz normales Wunder

Bis zur Wahlnacht im November 2008 hatte ich nur über ihn gelesen, und viel Widersprüchliches war dabei. Doch bei seiner Rede zum Wahlsieg kamen mir – ziemlich überraschend für mich bei der Rede eines Politikers – die Tränen. Seitdem schaue ich voller Neugier und Aufmerksamkeit auf diesen Menschen, der es – so scheint mir – geschafft hat Mensch zu bleiben, obwohl er Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Ja, ich schäme mich etwas, es zuzugeben, aber er hat mich seitdem des öfteren zu Tränen gerührt. Ist das ehrenrührig?
Was mich am meisten berührt: da pflegt ein mächtiger Politiker – der mächtigste überhaupt? – grundlegende menschliche Werte und Umgangsformen.

Ein kleines Beispiel: er fährt zum G20 Gipfel und kündigt es nicht nur an, er wolle auch zuhören. Er hört tatsächlich anderen zu! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Ein Politiker hört zu!
Ein zweites Beispiel. Er tut nicht so, als seien seine Vorschläge die besten, sondern ermuntert dazu: wer eine bessere Idee hat, solle sie äußern. Und es sei ganz normal, Fehler zu machen. Und er hat es einige Mal bereits zugegeben: „I messed it up!“ (Ich habe es verbockt)
Ein drittes Beispiel (und das soll dann erstmal genügen, es gibt viele weitere): Er verlangt von sich selbst und von Amerika, die Grundsätze und Werte selbst anzuwenden, die es von anderen verlangt. So werde z.B. auch Amerika atomar abrüsten und dies nicht nur von anderen verlangen. So verbietet er die Folter und die CIA-Geheimgefängnisse, die Bush exzessiv nutzen ließ.
Was ist daran so sensationell? Ist das alles nicht eigentlich selbstverständlich? Ich weiß nicht, ob ich darüber wütend, traurig, entsetzt oder fassungslos bin, vielleicht alles zugleich: Es ist tatsächlich in unserer Kultur sensationell, wenn ein Politiker nicht nur privat, sondern sogar im Amt Mensch bleibt. Ist das nicht zum Verzweifeln?
Obama war Sozialarbeiter in Chicago, bevor er seine Politkarriere begann. Ich bin richtig stolz, in dieser Hinsicht sein „Kollege“ zu sein. Auch meine „Karriere“ begann als Sozialarbeiter, nicht in Chicago, aber in Berlin Kreuzberg. Möglich, dass Obama hier einiges darüber gelernt hat, wie er Menschen innerlich erreichen kann, die ihren Mut und ihre Hoffnung längst verloren haben. Ich gebe zu, ich hatte meine Hoffnung längst verloren, dass ein Mensch in unserer Kultur soweit aufsteigen kann, ohne vollkommen vom Parteien-Klüngel und Macht-Lobbyismus korrumpiert worden zu sein. Und ein Teil von mir starrt immer noch ungläubig auf Barrack Obama, um ihn zu enttarnen, um das alles als eine gigantische große Show zu entlarven.
Der größere Teil in mir hofft, dass ich mich nicht vollkommen täusche. Was diese Hoffnung nährt, ist dass er eben nicht – wie oft behauptet – wie ein Messias auftritt. Was er verkörpert ist, dass wir als ganz normale Menschen unsere Träume leben können. Er behauptet nicht, dass das immer einfach ist.

Kürzlich sprach er in einer Veranstaltung vor 4000 Jugendlichen in Straßburg. Der Sohn meiner Lebensgefährtin (14) war dabei. Die Sicherheitsvorkehrungen waren wohl der Wahnsinn, aber er war als einer der ausgewählten, geladenen Gäste dabei. Auf 30 Meter Entfernung sah er ihn life. Es gibt ihn! Und er war beeindruckt. Ich konnte später leider nicht so genau in Erfahrung bringen, was ihn am meisten beeindruckt hat. Ist es tatsächlich sein Mensch-Sein in Ausübung größter Macht?

Ich habe es mir im Fernsehen angeschaut. Auf die Frage: „Haben Sie schon mal bereut, für die Präsidentschaft kandidiert zu haben?“ antwortet er, es sei schon manchmal frustrierend gewesen, im Wahlkampf so lange von seiner Frau und seinen Kindern getrennt zu sein, und auch dass er sich nirgendwo auf der Welt mehr frei bewegen könne, jeder Schritt werde vom Secret Service bestimmt und überwacht. Und dann kommt der Satz, der mir ins Herz geht: Es gebe jedoch nichts Höheres, Edleres, als der Dienst am Gemeinwesen (I truly believe that there’s nothing more noble than public service.) Wirklich erfüllend werde das Leben, wenn wir nicht nur an uns selbst denken, wie wir mehr Geld verdienen oder ein tolles Autor kaufen könnten, sondern indem wir uns für etwas einsetzen, was über unsere egoistischen Motive hinaus gehe. Dafür brauchten wir nicht Präsident zu werden. Jeder von uns könne das tun, genau dort wo wir gerade stehen. So könnten wir einen Unterschied bewirken in dem Projekt, eine bessere Welt zu schaffen.
Oh je, wie oft haben wir schon Politiker das hohe Lied auf den Altruismus, den Dienst an der Gemeinschaft, singen hören. Nur hatte es bis jetzt für mich immer den bitteren Beigeschmack der Moralisten, die Doppelzüngigkeit der Wasserprediger, die Wein trinken, oder ganz simpel den Hintergrund, Stellen im sozialen Bereich durch ehrenamtliche Arbeit einsparen zu wollen. Warum aber kaufe ich Obama seine Aussage ab, bin sogar zutiefst berührt? Ich persönlich glaube, ja ich will es glauben, dass es mit Obama jemand an die Spitze der Welt-Politik geschafft hat, der grundlegende menschlich-empathische Eigenschaften und Macht in sich vereinigen kann.
Wie er das geschafft hat? Ein Quantensprung des Bewusstseins? Ein Vorbote einer neuen Zeit? Steht gar, wie Feministinnen ja gerne glauben, wenn Männer etwas Positives zuwerke bringen, steckt seine Frau Michelle dahinter?
Obama ist auch politisch „das, worauf die Welt gewartet hat“ (Stern von 7.4.09) „Im Grunde ist Obama, eigentlich ein Paradox, ein Revolutionär der Mitte“ schreibt die „Zeit“ in ihrer Ausgabe vom 19.3.09. Ein lebendes Paradox, das wäre für mich ja schon Grund genug, Fan von ihm zu sein. Aber es ist nicht das politische Programm von Barrack Obama, das mich am meisten beeindruckt. Seine Maßnahmen, um die Wirtschaft anzukurbeln, finde ich höchst riskant. Und er ist auch kein Heiliger und kein Gutmensch. Er hat die Genehmigung dafür gegeben, die Piraten zu erschießen, die einen amerikanischen Kapitän vor Somalia als Geisel festhielten. Wird das die Gewaltspirale antreiben? Wie auch immer man dazu steht, er wird noch viele Fehler machen.
Was mich aber wirklich tief beeindruckt: Er zeigt, dass wir unsere menschlichen Qualitäten mit ihren Stärken und Schwächen, unser Herzblut und unsere Sehnsucht nach Glück und Erfüllung, dass wir das alles nicht in privaten Reservaten verstecken müssen. Wir können menschlich handeln und uns für ein lebenswertes Umfeld engagieren. Yes, we can.
Am Sonntag nach seiner Wahl erschien die Zeitschrift „Euro“ mit der Schlagzeile: „Can he?“ Ich hätte am liebsten zum Hörer gegriffen und den zuständigen Redakteur angebrüllt: „Haben Sie denn gar nichts verstanden? Gar nichts???? Es geht nicht darum, ob ER es kann. Es geht darum, ob WIR es können!!!!!“ Ich habe es nicht getan. Konnte ich nicht, wollte ich nicht?
Ich bin wohl so wütend geworden, weil auch ich immer wieder darum ringe, die Liebe meines Herzens mit meiner Macht zu verbinden, zum Wohle aller Menschen, mit denen ich Kontakt habe, inklusive meiner selbst und darüber hinaus. Kann ich das? Ja, ich kann es, immer öfter und vor allem dann wenn ich realisiere, dass ich nicht allein bin. In meinem Beruf ist das ungleich viel leichter als bei dem von Barack Obama. Und dennoch bin ich manchmal verzagt, mein Herz fühlt sich klein und verletzlich. Und ich bleibe nicht da stehen. Meine Reise geht weiter. Ihre auch?

Herzliche Reisegrüße

Saleem Matthias Riek

Über Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge und lebt bei Freiburg im Breisgau. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Bisher erschienen sind "Herzenslust" (auch als Hörbuch), "Leben, Lieben und Nicht Wissen", "Herzensfeuer", "Lustvoll Mann sein" und "Mysterien des Lebens". Weitere Bücher sind in Vorbereitung, u.a. eine Romantrilogie.
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7 Antworten zu Barack Obama – ein ganz normales Wunder

  1. Pit sagt:

    Lieber Saleem,
    neben den workshops, newslettern und deinen Büchern ein weiterer Quell voll Inspiration und Denkanstössen.
    Danke für die Gelegenheit als einer der ersten deinen Blog durchstöbern zu dürfen. Ich bin berührt von deinen Kommentaren zu Barack Obama und dem Blog zum genialen Verlierer. Es macht mir Mut, mir selber Verlieren zu erlauben und trotzdem an die Möglichkeiten der Veränderung heranzugehen. Schreib bitte weiter.
    Liebe Grüsse
    Peter

  2. Eva sagt:

    Lieber Saleem,

    ich habe genau wie du empfunden und mich gefreut als Obama zum Präsidenten gewählt wurde, mit Tränen in den Augen vor Freude…

    Doch es gibt auch andere Stimmen, die einiges aufdecken.
    Eine sehr aufrüttelnde Dokumentation auf folgenden Link:
    http://www.videogold.de/the-obama-deception-deutsch/

    Nachdem ich dan Film angesehen habe (dauert etwas länger 🙂 ), war ich ziemlich aufgewühlt und desillusioniert.

    Was ist die Wahrheit?
    Es gibt immer zwei Seiten der Medaille…

    Vielen Dank für das Teilen deiner Gedanken und Gefühle!

    Herzliche Grüße, Eva

  3. Saleem Matthias Riek sagt:

    Danke Eva für den Hinweis!
    Ich finde es gut, wach zu bleiben und sich nicht von Gefühlen allein davon tragen zu lassen. Allerdings finde ich den Video, der dich aufgewühlt hat, unsäglich, vor allem wegen der Projektion der eigenen Ohnmachtsgefühle auf eine vermeintlich allmächtige kleine Truppe von Bankern und deren Weltverschwörung. Ich habe nur Auschnitte davon ausgehalten, nicht wegen dem Inhalt, sondern wegen dem Ton.
    Obama als Marionette der wahrhaft Mächtigen? Die Gefahr sehe ich durchaus. Ich zweifle tatsächlich daran, dass ein Präsident alleine viel ausrichten kann, erst Recht kaum in der gegenwärtig wirtschaftlich zugespitzten Situation. Deswegen auch „Yes, we can“ und nicht „Yes, he can.“ Es kommt auf uns alle an!
    Eine ernstzunehmende Diskussion zum obigen Video und zu den Schattenseiten des „Phänomens Obama“ habe ich hier gefunden:
    http://www.radio-reschke.de/2009/04/12/obama-die-bilderberger-und-die-angebliche-neue-weltordnung-verschworung/
    Vor allem wird darin auch Bezug genommen auf das Thema Verantwortung, die wir alle tragen, ob wir uns nun als Opfer fühlen und gebärden oder nicht. Welche Macht haben wir, und wie geben wir sie ab? Ein weiteres spannendes Thema…
    Herzliche Grüße
    Saleem

  4. Gerd-Lothar sagt:

    Danke für den Link zu meiner Seite „Obama, die Bilderberger und die angebliche Neue-Weltordnung-Verschwörung“ und den verständnisvollen Kommentar!
    Gruß
    GL

  5. Eva sagt:

    Danke, Saleem!

    Dieser Beitrag auf dem Blog von Radio Reschke rückt alles ins rechte Licht.

    Panikmache, Projektion und Opferhaltung ist sicher nicht der Weg.

    Auch mir ist bewusst, dass dieses gut inszinierte Theaterstück dazu dient zu erkennen, sich seine Macht in jedem Bereich -im guten Sinne- zurück zu holen um selbstverantwortlich und frei sein Leben zu gestalten.

    Da bin ich seit einiger Zeit mitten drin… immer erfolgreicher… 🙂

    Das The-Art-of-Being Jahrestraining hat da auch Wichtiges dazu beigetragen.

    Herzlichst Eva

  6. Sabine sagt:

    Bei allem Verständnis, Saleem, für die Kritik am Stil des Films bzw. einiger Kommentare hoffe ich doch, dass wir uns aufrütteln lassen und uns nicht in rühriger Obamabegeisterung verlieren, sondern wach bleiben und uns unserer Verantwortung wirklich bewusst werden und stellen. Vielleicht kannst Du Dich ja doch noch überwinden und Dir mehr als nur ein paar Ausschnitte anschauen.
    Was Du zu Obama geschrieben hast, hat mich berührt, und doch fürchte ich, was der Film uns vermitteln will, entspricht schon sehr der Realität, auch wenn es unglaublich scheint.
    Mehr habe ich im Moment dazu gar nicht zu sagen.
    Sabine

  7. Liebe Sabine,

    danke für deine Wachheit. In einem Punkt scheint mir Obama bislang tatsächlich ziemlich blind zu sein, und das ist das Thema Wachstumszwang unserer Wirtschaft. Ist das ein Symptom davon, dass er in der Hand ein paar weniger Strippenzieher ist? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Also bleiben wir doch lieber selbst wach. In meinem Eintrag zum Thema Nichtwissen erwähne ich einen Artikel in der Zeit. Ein echter Augenöffner!

    Herzliche Grüße
    Saleem

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